Grenzlinien des Protests
An deutschen Hochschulen gibt es verstörende Fälle von Judenhass. Brennpunkte des Antisemitismus sind sie im Ganzen aber nicht. Was jetzt zu tun ist. Ein Gastbeitrag von Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz
Wandparolen
An einer großen deutschen Universität wurden unlängst in einem allgemein zugänglichen Gebäude antiisraelische und antisemitische Hassparolen an eine Wand geschmiert. Die Hochschulleitung war empört, ließ die hetzerischen Graffiti sofort abdecken, fachgerecht entfernen und erstattete Anzeige gegen unbekannt. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und angesichts des darauffolgenden Krieges in Gaza sowie mancher antisemitischen Entgleisung bei propalästinensischen Protesten hierzulande finden an der betroffenen Universität regelmäßig Gespräche mit betroffenen Hochschulangehörigen statt, werden Sicherheitsmaßnahmen, Beratungsangebote und auch die wissenschaftliche Befassung mit Antisemitismus und der komplexen Lage im Nahen Osten verstärkt. Dennoch sieht sich die Hochschulleitung in der Öffentlichkeit teils harscher Kritik ausgesetzt, weil die Hochschule angeblich – geduldet und gebilligt von ihrer Leitung – ein Brennpunkt des Antisemitismus sei.
Bedrohungen im Universitätsalltag
Die Lage ist ernst und beschämend. Jüdische Studenten und Hochschulbeschäftigte berichten dieser Tage, dass sie sich im privaten Umfeld und auf ihrem Campus nicht mehr sicher fühlen, teils direkte Bedrohungen erleben und überdies Solidarität und Anteilnahme vermissen. Es bedrückt mich zutiefst, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder ihre jüdische Identität verbergen, um unbehelligt und unversehrt durch den Tag zu kommen. Offener Antisemitismus begegnet ihnen insbesondere seit dem 7. Oktober nicht nur abstrakt, etwa in sozialen Medien, sondern auch beim Einkauf oder an Schulen. Und, ja, auch an deutschen Hochschulen, vor allem in den Metropolen, gibt es verstörende antisemitische Vorfälle – in Wort und in Tat, zum Teil verbunden mit Nötigungen und sogar körperlichen Attacken.
Antisemitismus und Gewalt
Aufrufe zur Zerstörung des Staates Israel, zum Boykott israelischer Universitäten und Forschungseinrichtungen, Verherrlichung des Hamas-Terrors, Relativierungen der Schoa, sogar Phantasien zur Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland konnte man hören. All das hätte ich mir noch vor einem Jahr ehrlicherweise nicht vorstellen können. Klar ist aber auch, dass Antisemitismus und Gewalt von den Hochschulleitungen – und von der übergroßen Mehrheit aller Hochschulangehörigen – keinesfalls akzeptiert werden, dass nötigenfalls vom Hausrecht Gebrauch gemacht wird und Straftaten zur Anzeige gebracht werden.
Sind die Hochschulen in Deutschland heute also Brennpunkte des Antisemitismus? An einem knappen Dutzend der insgesamt rund vierhundert Hochschulen gab es in den vergangenen Monaten derartige Vorfälle. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) registrierte in seinem Jahresbericht 2023 insgesamt 471 Vorfälle an unterschiedlichen deutschen Bildungseinrichtungen, von der Schule bis zum Theater – bei 4782 Vorfällen in Deutschland. Ein Team der Universität Konstanz hat Ende 2023 zudem in einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragen Rapid-Response-Befragung ermittelt, dass unter Studenten antisemitische Einstellungen deutlich weniger verbreitet sind als in der Gesamtbevölkerung (acht Prozent zu achtzehn Prozent). Das ist kein Grund zur Erleichterung; die Zahlen sind besorgniserregend. Sie stützen aber nicht die Hypothese, dass Hochschulen in Deutschland besonders anfällig für Antisemitismus sind oder diesen befeuern.
Der wissenschaftliche Diskurs zum Antisemitismus
Warum erfahren antisemitische Vorfälle an Hochschulen dann so große mediale und politische Beachtung? Sicherlich einerseits, weil sie ganz bewusst öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt werden. Anleihen an radikale, aktionistische Proteste und Camps, die im Frühjahr Universitäten in den Vereinigten Staaten erschütterten, sind nicht zufällig. Andererseits stehen Hochschulen als Orte von Forschung und Lehre herausgehoben für den regelhaften wissenschaftlichen Diskurs. Zur Schau gestellte Rechthaberei und Gesprächsverweigerung, interessengeleiteter, selektiver Faktenbezug, moralisierendes und stereotypes Schwarz-Weiß-Malen komplexer Sachverhalte, das Niederbrüllen widerstreitender Ansichten und in einigen Fällen auch die Offenheit gegenüber Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung widersprechen dieser Vorstellung fundamental. Der Widerspruch führt zwangsläufig zur gewünschten Aufmerksamkeit.
Die Motivation der Protestierenden
Die Motivation jener, die auf einem Campus protestieren, um auf die schwierige humanitäre Lage im Gazastreifen und auf Konsequenzen israelischer Politik aufmerksam zu machen, ist grundsätzlich nachvollziehbar. Diskursverweigerung, stereotype Attacken auf die israelische Gesellschaft, gegenüber allen Jüdinnen und Juden weltweit und das Ausblenden oder Billigen des Hamas-Terrors sind es nicht.
Die Hochschulleitungen lassen Protestaktionen so lange zu, wie sie friedlich verlaufen und von gegenseitigem Respekt getragen sind. Kritik an der israelischen Regierung und Appelle an die Verantwortungsträger sind möglich. Die Grenzen des legitimen Protests und zum Antisemitismus sind da überschritten, wo Straftaten vorliegen.
Die Hochschule als Bühne der Protest-„Profis“
Vielfach sind Hochschulen hier offenkundig zur Bühne geworden – haben sich dort auch gezielt Protest-„Profis“ von außerhalb eingebracht, um Kundgebungen mitzuorganisieren oder anzuheizen. Hochschulen sind öffentliche Einrichtungen der Wissenschaft. Sie stehen und wirken inmitten der Gesellschaft, haben – zumal die großen Universitäten – Hunderte von Zutrittsmöglichkeiten. Alle Eingänge eines Campus und seiner Gebäude Tag und Nacht zu kontrollieren, dort womöglich nur noch Hochschulangehörige einzulassen: Das ist von Hochschulen und Gesellschaft zu Recht weder gewollt noch lässt es sich praktisch umsetzen. Hochschulen sind Orte des freiheitlichen wissenschaftlichen Diskurses. All jene, die sich an dessen Grundsätze halten oder diese erlernen wollen, sind willkommen. Bei Verstößen und wenn Lehr- und Forschungsbetrieb anhaltend beeinträchtigt werden, schreiten die Hochschulen allerdings ein.
Vollständig verhindern lassen werden sich Störungen und antisemitische Vorfälle aber wohl nicht. Zur Wahrheit gehört auch, dass Gerichte Hochschulen wiederholt auferlegt haben, angemeldete Demonstrationen grundsätzlich nicht nur neben, sondern auch auf ihrem Gelände zu dulden – selbst wenn sie die Zielsetzungen der Proteste nicht teilen, der Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte gering ist und in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, sie würden diese Aktionen gutheißen. Das gilt auch für propalästinensische Proteste und Zeltlager, die in den vergangenen Monaten leider nicht nur legitime Solidaritätsbekundungen, demokratischen Protest oder wissenschaftlich weiterführende Impulse auf den jeweiligen Campus trugen.
Umso mehr sind alle Hochschulangehörigen – Studenten und Mitarbeiter in Wissenschaft, Technik und Verwaltung – gefragt, beiläufigen Äußerungen oder Kundgebungen, die von Antisemitismus und anderen Formen der Ausgrenzung, des Rassismus, von Gewalt oder Gewaltverherrlichung geprägt sind, mit friedlichen Mitteln entschlossen entgegenzutreten. Vernehmlicher Widerspruch gegen menschenfeindliche Hetze, Solidarität mit den Opfern und das Einfordern einer rationalen, wissenschaftlichen Debatte sind angemessene Reaktionen. Davon erhoffe ich mir manchmal mehr.
Teils herrscht erschreckende Unkenntnis über die komplizierte Lage in Nahost und die Bedeutung lautstark gerufener Slogans. Hier sind die Hochschulen als Bildungseinrichtungen gefordert – in Lehre und Studium, ganz besonders in der Lehramtsbildung, aber auch darüber hinaus, unter anderem in den Politik- und Geschichtswissenschaften. Vielerorts werden öffentliche Veranstaltungen zu Hintergründen des Konflikts oder Ringvorlesungen zum Thema Antisemitismus angesetzt. Auch die Forschung zur jüdischen Geschichte und Kultur bleibt ein wichtiges Arbeitsfeld der deutschen Hochschulen und beschränkt sich ganz bewusst nicht auf Aspekte historischer Judenfeindschaft und -verfolgung. Einzelne Hochschulen bieten überdies spezifische Formate für jüdische Studenten an.
Die notwendige Sensibilisierung bei Antisemitismus
Was wir noch tun können: Die Beratungsstrukturen an Hochschulen sind noch mehr für das Thema „Antisemitismus“, eine sehr spezifische Form der Diskriminierung, zu sensibilisieren. Jüdische Studenten und Mitarbeiter brauchen an ihren Hochschulen Anlaufstellen, an die sie sich vertrauensvoll wenden können. In einigen Hochschulen wurden Beauftragte gegen Antisemitismus benannt. Schließlich benötigen wir weiterhin den intensiven Austausch mit den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Israel, an denen der Diskurs zwischen jüdischen und arabischen beziehungsweise palästinensischen Studenten konstruktiv praktiziert und sehr kritisch auf die politische Gesamtlage geblickt wird. Mehrere deutsche Hochschulen haben neue Stipendienprogramme für Studenten und Forscher aus Israel und auch aus den palästinensischen Gebieten aufgelegt. Wir müssen weltweiten Boykottaufrufen im Interesse aller eine vertiefte Zusammenarbeit mit der israelischen Wissenschaft entgegensetzen.
Den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft können wir indes nur an der Wurzel packen durch nachhaltige Aufklärung, Diskursbereitschaft und das Schaffen von Begegnungsräumen. Wir müssen erreichen, dass Meinungsgegner mindestens bereit sind, die Positionen anderer zur Kenntnis zu nehmen und darüber nachzudenken, sich im besten Fall auch mit eigenen Gewissheiten, Vorurteilen und Meinungen kritisch auseinanderzusetzen – und mit diesem Hinterfragen sind wir mitten in der Wissenschaft, in Forschung und Lehre, den Kernaufgaben der Hochschulen.
Lippenbekenntnisse reichen nicht
Politik und Gesellschaft stünde es gut zu Gesicht, wenn sie auf die Überzeugungskraft rationaler Argumente vertrauten. In einer Demokratie muss man sich an die Verfassung und die Gesetze halten. Das Einfordern pauschaler (Lippen-)Bekenntnisse aber, wie aktuell verschiedentlich vorgeschlagen, wird Antisemitismus und andere Vorurteile nicht verschwinden lassen – im Gegenteil. Notwendig ist stattdessen die inhaltliche Auseinandersetzung, ein auf Fairness und Fakten basierender Diskurs. Antisemitische Stereotypen und Strömungen können dann frühzeitig entlarvt werden – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst und der Kultur.