Das Soziologische Seminar: Besetzung und Räumung, Dezember 1968

Im Verlauf der Auseinandersetzungen nimmt das Soziologische Seminar in der Myliusstraße 30 nicht zufällig eine besondere Rolle ein. Es wird zum Hotspot der soziologischen Aktivisten. Für einige Tage verwandelt sich das Soziologische Seminar in eine Streikzentrale . Hier kann man unmittelbar mit den Institutsdirektoren Adorno, Habermas und von Friedeburg unterstützt von Negt streiten. Konfrontationen sind unvermeidlich. Siehe hierzu: Gegen Adorno und Habermas.

Nach bewährtem Muster wird das Soziologische Seminar in „Spartakusseminar“ umbenannt. Anzumerken ist: Diese Benennung greift auf Ereignisse zwischen dem 5. bis 12. Januar 1919 zurück, nämlich den sogenannten Spartakusaufstand, den Noske durch das Freikorps Potsdam mit Waffengewalt niederschlagen ließ. Der Historiker Heinrich August Winkler sieht darin einen „Aufstand gegen die Demokratie“: Ganz ähnlich wie die Bolschewiki, die im Januar 1918 die demokratisch gewählte Russische konstituierende Versammlung mit Waffengewalt auseinanderjagten, hätten auch Liebknecht und seine Anhänger den Parlamentarismus bereits vor den Wahlen zur Nationalversammlung verhindern wollen.

Das Soziologische Seminar: Epizentrum der Auseinandersetzungen

Es ist nicht zu verkennen: Das Soziologische Seminar ist das Epizentrum der Auseinandersetzungen. Hier studieren die Wortführer des SDS, hier werden die Aktionen geplant und vorbereitet.

Das Flugblatt des Basisgruppe Soziologie vom 5. Dezember 1968

Mit einem Flugblatt vom 5. Dezember 1968, das vor der Mensa verteilt wird, ruft die Basisgruppe Soziologie, deren Zusammensetzung nicht offen gelegt wird, zu einer Vollversammlung am selben Tag auf. Sie fordert von Adorno, Habermas und Friedeburg, den Studenten die Möglichkeit einzuräumen ihr Studium selbst zu organisieren, das leistungsdiktatorische Prüfungssystem abzuschaffen und die vorläufige Aussetzung des Lehrbetriebs.

Die Vollversammlung am 6. Dezember 1968

Diese Vollversammlung beschließt, zum Vorlesungsstreik aufzurufen und studentische Arbeitskreise zu bilden, die eine neue soziologische Studienordnung entwickeln sollen. Habermas, der an der Vollversammlung teilnimmt, hält einen Streik für sinnlos.

Aktionen gegen von Friedeburg am 9. Dezember 1968

In Solidarität mit dem Protest der AfE-Studenten gegen die Kürzung der Regelstudienzeit ruft der SDS am 9. Dezember 1968 dazu auf, die Vorlesung Friedeburgs, die am selben Tag stattfindet, umzufunktionieren

Der autoritäre Staat setzt erneut zum Angriff auf die politischen und wissenschaftlichen Interessen der Studenten an. Die Studenten der AFE protestieren gegen den Versuch des hessischen Kultusministeriums, eine rigorose Kürzung des Studiums und die Streichung politisch bezogener Grundwissenschaften zu diktieren. Der Staat will eine reibungslos verwertbare, pädagogische Intelligenz, die Wissen aufspeichern, aber nicht kritisch denken soll. […]. Zwanzig Jahre wirkungsloser demokratischer Reformentwürfe sind genug. Wir können dem autoritären Staat die Universität nicht überlassen. Die Kommilitonen der AFE haben dem Staat Kampfmaßnahmen angekündigt, wenn ihre Forderungen unerfüllt bleiben. Es genügt nicht, gegen die technokratische Hochschulreform bloß zu protestieren, die Studenten müssen die Organisation der wissenschaftlichen Forschung und Lehre selbst übernehmen. Die Ordinarien verfügen über die Freiheit von Forschung und Lehre als Privateigentümer. Die Studenten müssen autonom die Lehr- und Lernprozesse in ihre eigenen Hände nehmen.“

Flugblatt des SDS vom 9. Dezember 1968

Außerdem besetzen noch am Nachmittag dringen einige Personen in das Geschäftszimmer Friedeburgs im Soziologischen Seminar ein:

Am Folgetag weiten sich die Aktionen zu einer Institutsbesetzung aus:

Die Vollversammlung der Fachschaft Soziologie am 10. Dezember 1968

Am 10. Dezember 1968 findet begleitend eine sogenannte Vollversammlung der Fachschaft Soziologie statt, in der die Wortführer des SDS, Krahl, Cohn-Bendit, Raimund Reiche und Wetzel, Position beziehen. Die Assistentin Dr. Ruth Meyer berichtet im Einzelnen über diese Veranstaltung. Unter anderen kristallisiert sich folgendes heraus:

  • Nur ein sozialistisches System ermöglicht kritische Wissenschaft.
  • Es kommt nicht darauf an, einige Seminare zu ändern. Vielmehr müssen neue Formen kollektiven, spontanen Handelns erreicht werden.
  • In den studentischen Arbeitsgruppen muss der unmittelbare Zusammenhang zur revolutionären Studentenbewegung hergestellt werden. In ihnen müssen die Aktionen geplant und vorbereitet werden.
  • Das bisherigen System der deutschen Universitäten muss zerstört werden.
  • Jegliche Forderungen auf Mitbestimmung und Einrichtung einer kritischen Universität sind nur taktisch relevant. Werden sie erfüllt, ist dies in Wirklichkeit bedeutungslos.
  • Information und Wissensvermittlung werden mit Manipulation gleichgesetzt.

Das Flugblatt des Streikkomitees vom 10. Dezember 1968

Nach Beendigung der Vollversammlung meldet sich ein Streikkomitee der Soziologiestudenten mit einem Flugblatt zu Wort, dessen Konstituierung und Zusammensetzung nicht aufgedeckt wird. Mit einem Flugblatt wendet es sich an die Hochschullehrer des Seminars, also an Adorno, Habermas und von Friedeburg und statuiert in einer Präambel folgendes:

  • Der Widerspruch zwischen dem praktischen Selbstverständnis kritischer Soziologie und der privatarbeitsteiligen Anarchie ihrer gegenwärtigen Organisation erfordert von Studenten, Lehrstuhlinhabern und wissenschaftlichen Mitarbeitern eine grundlegend neue Organisation des soziologischen Studiums, die auf die praktische Vermittlung von sozialen Berufschancen und politischer Tätigkeit zielt.
  • Diese Neuorganisation verlangt eine Reflexion darauf, welche theoretische und politische Arbeit für die Beseitigung spätkapitalistischer Herrschaftsformen, wie sie durch die studentische Protestbe:wegung der letzten Jahre erst richtig deutlich geworden sind, objektiv geleistet werden muß, und wie diese Arbeit ihre angemessene materielle Entschädigung finden kann.
  • Eine Studien- und Uhiversitätsreform läßt nicht mehr länger aufschieben. Diese Auseinandersetzung muß sich gemäß der Intention unserer Wissenschaft sowohl auf die Aufhebung der bisherigen fakultätsmäßigen Arbeitsteilung wie auch auf die gesamtgesellschaftlichen Implikationen und Funktionen anderer bisheriger Berufsbilder erstrecken, so zum Beispiel der Lehrer der Juristen und ihrer bisherigen Ausbildung
  • Diese Auseinandersetzung schließt notwendigerweise auch die institutionelle Neuorganisation des Soziologischen Seminars ein, in dem die Studenten als gleichberechtigte wissenschaftliche Produzenten agieren, denen eine Kontrolle über die Produktivkraft Wissenschaft zusteht.
  • Dies ist zwingend mit Abschaffung des überlieferten, ständischen Ordinarienprinzips verbunden.
  • Eine solche notwendige, grundlegende wissenschaftliche Reflexion über eine Neuorganisation von Instituten, Lehr- und Forschungsbetrieb hat reelle Chancen auf Erfolg nur dann, wenn sie sich in einem entsprechenden Bewegungspielraum vollziehen kann, das heißt, der routinierte Lehrbetrieb muss aus diesen grundsätzlicheren Erwägungen heraus zunächst ausgesetzt werden.

Dann fordert das Streikkomittee von den „Ordinarien“ des Seminars, folgendes zu beschließen:

  1. Das Wintersemester 1968/69 wird vollgültig als Studiensemester anerkannt, obwohl der „normale“ Lehrbetrieb nicht stattfindet.
  2. Die bisherigen Seminare und Übungen werden durch studentische Projektgruppen ersetzt, für deren Besuch die Hochschullehrer Leistungsnachweise ausstellen.
  3. Vordiplomprüfungen werden bis zur Verabschiedung einer neuen Seminarsatzung ausgesetzt.
  4. Entscheidungen über die Besetzung vakanter Hochschullehrerstellen oder Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter werden aufgeschoben, bis ein neues Leitungsgremium gebildet ist.
  5. Dieses Gremium entscheidet vor allem auch über die finanzielle Ausstattung in Lehre und Forschung.
  6. Gegen die Stimmen der studentischen Mitglieder in diesem Gremium können die Ordinarien und wissenschaftlichen Mitarbeiter keine Beschlusse fassen.
  7. Die Studenten können in einem von ihnen selbst organisierten Bereich gleichberechtigt eigene Lehr- und Forschungsprojekte durchführen.

AStA plädiert für Streik bis zum Beginn der Weihnachtsferien

Am 11. Dezember 1968 meldet sich der AStA zu Wort und plädiert für eine Ausweitung des Streiks bis zum Beginn der Weihnachtsferien.

In diesem Kontext ist zu beachten, dass die Aktionen der Soziologen zwar eine eigenständige Bedeutung haben, jedoch auch eingebettet sind in die Proteste der Studenten der Abteilung für Erziehungswissenschaften (AfE), die sich gegen die von Schütte eingeleitete Reform der Ausbildung von Grund-, Haupt- und Realschullehrern und die Beschränkung der Regelstudienzeit auf drei Jahre wendet.

Am 12. Dezember 1968 wendet sich der Akademische Senat mit einem Hilferuf an den Hessischen Kultusminister Schütte

Professor von Friedeburg

Am 12. Dezember 1968 berichtet die FAZ über die Ereignisse im Soziologischen Seminar

Unter dem Titel „Augenzwinkernde Solidarität mit den Studenten“ berichtet die FAZ am 12. Dezember 1968 über die Auseinandersetzungen im Soziologischen Seminar.

Habermas reagiert am 15. Dezember 1968
mit einer ersten Stellungnahme auf die Forderungen des Streikkomitees

Auf einige Forderungen des Streikkomitees reagiert Habermas erstmals am 15. Dezember 1968 mit einer öffentlichen Stellungnahme.

Er bekräftigt und begründet, warum er trotz Streikaufruf seine Lehrveranstaltungen anbietet und anbieten wird.

Wenn er es recht verstehe, bediene man sich des begrüßenswerten Impulses zu einer Neuordnung des Studiums nur als
eines Vehikels, um den Wissenschaftsbetrieb als solchen zu zerstören. Raimund Reiche betone nämlich, Wissenschaft sei schon per se repressiv und müsse deswegen abgeschafft werden. Wörtlich erklärt Habermas dann überaus deutlich und kompromisslos:

„Wer aber die Basis der Aufklärung angreift, macht aufgeklärtes politisches Handeln unmöglich. Die Basis der Aufklärung ist eine an das Prinzip ungezwungener Diskussion und allein an dieses Prinzip gebundene Wissenschaft. Wer einzelne theoretische Ansätze durch institutionellen Zwang dogmatisieren will, wer darüber hinaus jeden theoretischen. Ansatz diskriminiert zugunsten einer Instrumentalisierung des Denkens und Wissens für die ad hoc Bedürfnisse sogenannter Praxis, schickt sich an, die Bedingungen vernünftiger Rede und damit die Grundlage von Humanität abzuschaffen. Wer mit dieser Intention einverstanden ist – und zunächst einmal unterstelle ich, daß niemand damit einverstanden ist – wer aber mit dieser Intention einverstanden ist, dessen moralische, geistige und politische Verfassung unterscheidet sich prinzipiell nicht mehr von dem intellektuellen Prototyp sei es des Faschisten oder des Stalinisten. Um Verwirrungen und Versuchungen dieser Art im Ansatz entgegenzutreten, halte ich es für unabdingbar, daß der offizielle Lehrbetrieb aufrecht erhalten bleibt.“

Habermas reagiert am 17. Dezember 1968
mit einer zweiten Stellungnahme auf die Forderungen des Streikkomitees

In diesem Statement reagiert Habermas entgegenkommender. Jedoch umreißt er deutlich die Grenzen, die einzuhalten sind:

„Wir unterstützen den Protest unserer Studenten gegen Gefahren einer technokratischen Hochschulreform, vor denen wir seit Jahren warnen. Freilich darf dieser Protest nicht von klar definierten Zielen einer Veränderung gerade des institutionellen Rahmens absehen, der durch ein neues Hochschulgesetz festgelegt wird. Wir begrüßen ferner, daß die vereinzelten Initiativen von studentischen, Gruppen,für eine didaktische und inhaltliche Neuordnung ihrer Studiengänge Konzepte zu erarbeiten, nun ein breites Echo gefunden haben. Wir bekräftigen unser wiederholt bewiesenes Interesse daran, die unerträglichen Bedingungen des Massenstudiums zu verändern, einen Lehrbetrieb zu schaffen, der den Bedürfnissen der Studierenden ebenso gerecht wird, wie den immanenten Anforderungen unserer Wissenschaft. Das kann nur durch eine kontinuierliche und breite Diskussion aller Beteiligten erreicht werden. Die Arbeits- und Projektgruppen, die sich in den letzten Tagen gebildet haben, sind dazu ein erster Schritt. Wir wollen nicht, daß diese Initiative scheitert. Ein Teil der Studenten verknüpft aber die berechtigten Wünsche mit Forderungen, die weder grundsätzlich noch politisch gerechtfertigt werden können. Der sogenannte Negativ-Katalog hat ausschließlich propagandistischen Stellenwert. Er dient einer Taktik der Konfrontation um jeden Preis, die zur Selbstzerstörung führen muß.
Zu den Forderungen im Einzelnen:
1) Studienleistungen, die für die Dozenten des Faches erkennbar und nachprüfbar sind, werden wie bisher durch Scheine bestätigt, wenn sie Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens genügen.
2) Mit der Grundsatzdiskussion über Form und Inhalt des Studienganges in Soziologie muß selbstverständlich auch die gegenwärtige Diplomordnung in Frage gestellt werden. Wir sind darüber hinaus der Meinung, daß überhaupt die. Abschaffung des soziologischen Diplomstudiums überlegt werden sollte. Eine Änderung der Prüfungsordnung ist jedoch nach geltendem Recht nur durch gemeinsamen Beschluß der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen und der philosophischen Fakultät möglich. Das Vordiplom kann nicht „ausgesetzt“ werden, wenn damit gemeint ist, daß die prüfungsberechtigten Hochschullehrer prüfungsbereite Kandidaten, die den Anspruch darauf haben, ein Vordiplom abzulegen, die Prüfung verweigern sollen.
3) Das Vorschlagsrecht für·die Berufung auf Lehrstühle liegt heute bei der Fakultät. Nur ein neues Hochschulgesetz kann das ändern. Die Einstellung von wiss. Mitarbeitern und Angestellten des Seminars ist Sache der Direktoren. Diese Kompetenzen können und sollen in einer künftigen Seminarordnung neu geregelt werden. Bis dahin halten wir uns an die bestehenden Regelungen.
4) Nach unserem Vorschlag soll in Zukunft eine drittelparitätisch besetzte Seminarversammlung über die Verwendung der Haushaltsmittel des Seminars entscheiden. Eine Regelung die den Studenten wenigstens die Hälfte der Stimmen in diesem Organ sichert, halten wir nicht für vertretbar. Sie widerspricht der inneren Differenzierung einer nach Funktionen arbeitsteilig gegliederten Institution der wissenschaftlichen Lehre.
5) Wir verstehen, daß Studenten, solange die Ordinarien allein über Haushaltsmittel verfügen, eigene Mittel zur autonomen Verwaltung fordern. Eine korporative Sonderregelung für Studenten kann aber nur im Sinne einer Schutzfunktion gerechtfertigt werden. Bei einer drittelparitätischen Zusammensetzung der Seminarversammlung entfällt die Notwendigkeit für eine solche Privilegierung.
Zusammenfassend stellen wir fest: Die Auflagen, mit denen die Technokraten des verselbstständigten Protestes den berechtigten Widerstand der Studenten zu neuen Konfrontationen und vorhersehbaren Niederlagen manövrieren wollen, sind ungerechtfertigt. Ebensowenig lassen die Pressionen, derer sie sich dabei. bedienen, legitimieren. Wir drängen, wie Jederman weiß, auf eine energische Hochschulreform; uns gegenüber braucht sich niemand Diskussionen mit Gewalt erzwingen. Wir haben bereits am Ende des vergangenen Semesters den Vorschlag zu einer Seminarordnung vorgelegt, auf die bisher vonseiten der Studenten nicht geantwortet worden ist.

Der Zusammenfassende Bericht über die Ereignisse seit dem 6. Dezember 1968 im Soziologischen Seminar

In einem 6-seitigen Bericht fasst das Rektorat am 18. Dezember 1968 die Entwicklung der Ereignisse im soziologischen Seminar zusammen.

Das Soziologische Seminar und die Rolle Negts

Im Verlauf der Auseinandersetzungen am Soziologischen Seminars ist die Rolle Negts als Mentor, der aktiv die Ereignisse begleitet und anregt, unübersehbar schwierig und heikel, denn ihm geht es auch darum das Soziologische Seminar und das Institut für Sozialforschung zu schützen. In seinem folgenden Bericht gesteht er, er habe vor der Institutsbesetzung nur in privaten Gespräche gewarnt, habe aber diese Warnungen nicht öffentlich gemacht. Das sei einer seiner größten Fehler und Fehleinschätzungen in dieser Zeit gewesen. Es sei nicht auszuschließen, dass er doch hätte Einfluss nehmen können. In dem folgenden Bericht schildert er anschaulich seine prekäre Lage:

„Im vollbesetzten Hörsaal VI der Frankfurter Universität halte ich , auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten, die mehrere Semester lang an meinen Übungen über Kant, Fichte, über die rationalen Naturrechtstheorien von Hobbes, Locke, Rousseau teilgenommen haben, im Wintersemester 1968/69 eine Vorlesung über Lenins »Staat und Revolution«; die Veranstaltung ist nach allen Seiten hin gut vorbereitet, mit zahlreichen Referatsangeboten, Literaturlisten, kontinuierlicher Teilnahme und großer Diskussionsbereitschaft – eine nach meinem Gefühl geglückte Verbindung von politischer Versammlung und akademisch- wissenschaftlichem Diskurs, so wie ich es die ersten sechs Wochen wahrnehmen kann. Alle, die etwas zu sagen haben, sind anwesend: Krahl; die Lederjackenfraktion immer in der zweiten Reihe direkt vor mir sitzend; Cohn-Bendit ganz hinten oben rechts, mit günstigem Überblick. Plötzlich taucht, jedoch eindeutig noch im Kontext der Leninschen Theorie der Sowjets, das Wort »Institutsbesetzung<< auf. Als Beispiel für »gegenstandskonstitutive Praxis«, wie Krahl das formuliert, was so viel bedeutet wie: Selbstbestimmung über Zeit und sinnlich unmittelbare Verfügung über Räume, in denen die Menschen arbeiten, verändern auch die Gegenstände, mit denen sie umgehen. Erst nach gut einer Stunde theoretisch äußerst spannender Diskussion fällt das Stichwort »Institut für Sozialforschung« in einem Erläuterungszusammenhang, der Horkheimers Begriff des autoritären Staates betrifft. »Warum sollen wir es nicht besetzen«, ruft einer der Teilnehmer in den Hörsaal, »und das, was wir hier erarbeitet haben, praktisch ausprobieren. Das liegt doch nahe. »Was liegt nahe?« erwidere ich etwas verdutzt. >>Es ist doch auch EUER Institut.« Grölendes Gelächter schallt mir entgegen; von dem Augenblick an läuft überhaupt nichts mehr in dieser Veranstaltung, was mit einer Lenin-Vorlesung zu tun hat. Alles ist auf den neuen Interessenschwerpunkt »Institutsbesetzung« konzentriert, ja beim Reden richten sich die Blicke in dem fensterlosen Hörsaal auf das Institut, das eine Straße weiter in der Senckenberganlage liegt; das in die Besetzungsabsicht eingeschlossene Soziologische Seminar in der Myliusstraße ist in gerader Linie einige Straßen dahinter zu finden. Man sieht ihnen buchstäblich an, wie sie mit ihren Gedanken bei dieser Sache sind: Das Leuchten in ihren Augen verweist deutlich auf die Vorlust ihrer Vatermordplanungen, wobei freilich von einzelnen der Verdacht geäußert wird, die Aktion könne ohne jede Konfrontation mit der zu besetzenden Institution, also ins Leere laufen. Obwohl ich eine Ahnung davon habe, daß hier mehr verhandelt wird, als die offen thematisierten Gegenstände es nahelegen – zum Beispiel Beteiligungsregelungen in den akademischen Gremien, Mitbestimmung über Forschungsplanung und Lehrveranstaltungen – , ist mir der Ernst der Lage nicht klar; auch der Schaden, der durch dieses Besetzungsabenteuer der linken Hochschulpolitik zugefügt wird, ist für mich unmittelbar nicht erkennbar. Ich habe die Institutsbesetzung zwar nicht befürwortet, aber auch die privaten Gespräche, in denen ich davor warnte, nicht öffentlich gemacht. Das war einer meiner größten Fehler und Fehleinschätzungen in dieser Zeit. Es ist nicht auszuschließen, daß ich doch hätte Einfluß nehmen können; denn als ich merkte, daß es nicht um Mitbestimmung ging, daß die Forderungen, die mit Drittelparität eingesetzt hatten, mit Halbparität fortgesetzt und schließlich bis zur unerfüllbaren Bedingung eines zusätzlichen autonomen Haushaltsbereichs (der in völliger Verfügung der Studenten stehen sollte) ausgedehnt wurden, war es zu spät. Was hier und in manchen anderen Fällen abgelaufen ist, hat offensichtlich den sozialpsychologischen Grund, in einer Institution, die nur über das sehr schwache Instrument des Hausrechts verfügt, Widerstand zu provozieren, der für die eigenen Orientierungen und Verhaltenssicherheiten dringend benötigt wird – was übrigens unter dem Gesichtspunkt der provozierten Grenzverletzungen, welche die Gegenstandslosigkeit der Wünsche aufleben und wirkliche Reibungsflächen schaffen sollten, beinahe schief gelaufen wäre. Erst später habe ich erfahren, daß der Polizeieinsatz, den die Studenten erwartet und wohl auch gewünscht hatten, keineswegs gesichert gewesen ist und daß das Institut am Besetzungstag mit einem Schlüssel geöffnet wurde, nicht wie üblich in solchen Fällen mit Gewalt, wobei der teilweise heftige, ja feindselige Streit darüber, wer den Studenten den Schlüssel zugesteckt oder die Institutstür vorsorglich geöffnet habe, zwischen zwei ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung bis Ende der siebziger Jahre geführt wurde (noch im Starnberger Institut war das, wenn der Wein floß, Gegenstand bitter-ernster Kontroversen). Wie in vielen anderen Fällen haben auch in diesem Fall die Studenten selbst dazu beigetragen, daß mit solchen Aktionen die Medien noch zwanzig Jahre später Stoff genug für ausschmückende Berichte auf dem Niveau des Studentenulks haben, wie über jenen Vorfall, als Schüler das Rektorat der Johann Wolfgang Goethe-Universität besetzten, und  unbekömmliche Rektoratszigarren rauchten und; mit Ordinarienbarett und Talaren bekleidet, die anrüchige Kaiserstraße herunterradelten, wohl um auszuprobieren, wie weit ihre Allmachtsphantasien wirklich reichen.

Oskar Negt, Achtundsechzig, Politische Intellektuelle und die Macht, 1. Auflage, 1995, Seite 177 ff.

Bericht von Friedeburg vom 12. Dezember 1968 an den Dekan der Philosophischen Fakultät Rauter

Die Hybris der Agitatoren ist nicht zu bremsen. So setzt man die Parole in die Welt: „Die Universität gehört uns!“ – Das Seminar verwandeln sie in ein „Spartakus-Institut“ und proklamieren den „unbegrenzten Streik“. Sich selbst überschätzend, sind sie bereit einen eigenen Forschungs- und Lehrbetrieb zu organisieren. Parallel hierzu sollen die Ordinarien auf ihre Privilegien verzichten und ein Entscheidungsgremium akzeptieren, in welchem die Studenten über 50% der Stimmen verfügen, usw.

Das Soziologische Seminar und der Polizeieinsatz am 17. Dezember 1968

Bericht Strobel

Aktenvermerk vom 29. April 1969: Schäden wegen Besetzung Soziologisches Seminar

Chronologie Besetzung Soziologisches Seminar

Strafanzeige von Friedeburg und Rektor: Besetzung Soziologisches Seminar

Flugblatt Streikkomitee Soziologisches Seminar vom 18. Dezember 1968

Bericht der Frankfurter Rundschau vom 19. Dezember 1968

Soziologisches Seminar

Bericht der FAZ vom 20. Dezember 1968

Polizeibericht vom 20. Dezember 1968

Bericht des Dekans vom 20. Dezember 1968

Vollversammlung der Fachschaft Soziologie und Bericht Roth vom 24. Januar 1969

Flugblatt der Fachschaft Soziologie vom 27. Januar 1969

Artikel der FNP vom 25. Januar 1969

Das Soziologische Seminar: Bericht Polizei vom 27. Januar 1969 zur erneuten Besetzung

Mitteilung „Spartakus-Seminar vom 30. Januar 1969: Aufruf zum Widerstand

Besetzung Institut für Sozialforschung

Soziologisches Seminar

Das Soziologische Seminar ist Streikzentrale und wird am 12. Dezember 1968 besetzt

In den folgenden Tagen entwickelt sich das „Spartakusseminar“ in eine Art Streikzentrale. Siehe hierzu das Flugblatt vom 12. Dezember 1968, in welchem prahlend verkündet wird, die Universität gehöre den Aktivisten:

Der Akademische Senat fordert die Besetzter auf, das Soziologische Seminar zu räumen

In dieser Situation greift der der Akademische Senat ein und fordert die Besetzer auf, unverzüglich die Räume zu verlassen. siehe Bericht der Frankfurter Rundschau vom 13. Dezember 1968:

Die Besetzer reagieren zunächst nicht, sondern erweitern ihre Ziele. Es sollen weitere Institute besetzt werden, um noch größere Freiräume zu erobern. Andererseits wird die polizeiliche Räumung befürchtet:

Wir unübersichtlich die Lage ist, verdeutlicht der folgende Artikel. „Man soll die Universität so lange im eigenen Saft kochen lassen, bis die Studenten zur Besinnung kommen.“

Das Soziologische Seminar wird am 17. Dezember 1968 polizeilich geräumt

Am 17. Dezember 1968 ruft dann endlich der Rektor die Polizei, nachdem auch Adorno, von Friedeburg, Habermas und Mitscherlich die Räumung androhen. Als die Polizei am frühen Morgen eintrifft, habe die Besetzer schon das Weite gesucht. Niemand wird angetroffen.

Auf den Polizeieinsatz reagiert der SDS mit zwei Flugblättern:

Sollten Adorno, Habermas, Mitscherlich und von Friedeburg Solidarität der Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Seminars erwartet haben, werden sie enttäuscht. Deren Protest gegen die „polizeiliche Besetzung“ ist unmissverständlich. Auf einem Flugblatt, das im Verlauf des Teach Ins verteilt wird, werfen sie den Hochschullehrern vor, die Studenten daran gehindert zu haben, ihr Studium selbst zu organisieren:

Rüegg und andere Professoren des Seminars für Gesellschaftslehre begrüßen zwar die „selbstverantwortliche Betätigung“ der Studenten. Jedoch warnen sie vor der Lahmlegung des Studienbetriebs, durch den sogenannten „aktiven Streik“.

Soziologisches Seminar Besetzung


Das Soziologische Seminar in der Rückschau

In der Rückschau auf die Entwicklung des Soziologischen Seminars ist der von Felicia Herrschaft und Klaus Lichtblau herausgegebene Sammelband unverzichtbar: Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz. Herausgegeben von Felicia Herrschaft und Klaus Lichtblau, 1. Auflage, 2010

Vor allem der zweite Teil der Publikation ist im vorliegenden Zusammenhang informativ:

Teil 2: Interviews und autobiographische Erinnerungen

David Kettler
Ein unvollendetes Lehrstück: Meine Verhandlungen mit drei Frankfurter Schulen. S.257
Walter Rüegg
„Natürlich hätte die Entwicklung einen ganz anderen Verlauf genommen, wenn Karl Mannheim nach dem Krieg nach Frankfurt zurückgekommen wäre.“ S.283
Ludwig von Friedeburg
„Es war die enge Freundschaft und Solidarität mit Adorno, die meine Grundbeziehung zum Institut für Sozialforschung bestimmte.“ S.307
Iring Fetscher
„Ich verbiege mich nicht. Ich sage, was ich für richtig halte.“ S.331
Thomas Luckmann
„Ich habe mich nie als Konstruktivist betrachtet.“ S.345
Ulrich Oevermann
„Der Gegenbegriff zur Gesellschaft ist nicht Natur, sondern Kultur.“ S.369
Hansfried Kellner
„Rekonstruieren, die Augen offen halten und sich nicht irritieren lassen!“ S.407
Günter Dux
„Wenn mir irgend etwas an der Studentenbewegung unmittelbar plausibel war, dann die Kritik an der Universität.“ S.425
Alois Hahn
„In der Höhle des Löwen.“ Das doppelte Paradigma in der Frankfurter Soziologie der 60er Jahre. S.435
Herbert Schnädelbach
Links und rechts der Zeppelinallee: Die beiden Seiten Adornos. S.449
Eike Hennig
„Ich finde, dass die Soziologie eigentlich das interessantere und anspruchsvollere Fach ist.“ S.473
Tilman Allert
„Habermas hat die Innovationsbedürftigkeit gespürt.“ S.487
Wolfgang Glatzer
„Was für Bagatellen! Wieso haben die sich gestritten?“ S.499

Zudem werden im Anhang: Dokumente zur Soziologie in Frankfurt präsentiert

1. Chronik zur Geschichte der Soziologie in Frankfurt. S.509
2. Dokumente anlässlich der Berufung von Franz Oppenheimer nach Frankfurt. S.521
3. Dokumente anlässlich der Berufung von Karl Mannheim nach Frankfurt S.525
4. Dokumente anlässlich der Berufung von Friedrich H. Tenbruck nach Frankfurt. S.533
5. Bericht von Ivo Frenzel über die Umstände der Berufung von Horst Baier zum Adorno-Nachfolger in Frankfurt. S.551
6. Erste Diplomprüfungsordnung für Soziologie der Universität Frankfurt von 1954/55. S.555
7. Liste der Dekaninnen und Dekane des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften seit seiner Gründung im Jahr 1971. S.567

Im Vorwort wird hervorgehoben, dass der Sammelband die Veränderungen im Bereich von Studium und Lehre illustriere. Er sei ein gemeinsames Produkt von Studierenden, akademischem Personal des Mittelbaus und der Professorenschaft. Er sei noch im Rahmen des alten, auslaufenden Diplom-Studiengangs entstanden.