Das „Busenattentat“ auf Adorno in seiner Vorlesung „Einleitung in dialektisches Denken“ am 22. April 1969.
Diese Aktion des SDS gegen Adorno hat im Verlauf der Frankfurter Studentenbewegung einen besonderen Stellenwert, denn sie gerät zu einem Spektakel besonderer Art. Welches mediales Aufsehen diese Aktion hervorgerufen hat und dies heute auch noch gilt, beweist die folgende Googlerecherche mit über tausend Ergebnissen! Hervorzuheben ist hier der kritische Aufsatz von M. Schönwetter im Distanz Magazin vom 6. August 2019: Eine sexistische Aktion feministisch lesen? Eine Kritik an Heide Oestreichs Kolumne ›Sechs Brüste für Teddy. Das „Busenattentat“ auf Adorno. Zu Recht empört sich Schönwetter über die Kommentierung Oestreichs, die ihn als intellektuellen Patriarchen diffamiert, im Institut wie auch daheim. Mit seiner ausgebeuteten Gattin habe er sein Hauptwerk, die „Dialektik der Aufklärung“, zusammengeschrieben.
Adornos Vorlesung „Einleitung in dialektisches Denken“ im Sommersemester 1969
Formeller Beginn der Lehrveranstaltungen im Sommersemester 1969 ist der 14. April 1969. Adorno kündigt für Dienstag und Donnerstag jeweils von 16.15 bis 17.00 Uhr seine Vorlesung „Einleitung in dialektisches Denken“ an, die im Hörsaal VI stattfinden soll, sowie für 17.15 bis 19.00 Uhr ein sich hieran anschließendes Philosophisches Hauptseminar. Dieses soll die in der Vorlesung thematisierten Fragen behandeln. Zudem sieht er ein zweistündiges soziologischen Hauptseminar „Probleme des Strukturalismus“ vor.
Adornos Vorlesung „Einleitung in dialektisches Denken“ wird am 22. April 1969 gestört
Am Dienstag, den 22. April 1969, drängen sich in der zweiten Vorlesungsstunde im überfüllten Hörsaal rund fünfhundert Personen. Zwischenrufe wie „Nieder mit dem Denunzianten-Ordinarius“, „Nieder mit Adorno“ empfangen ihn, als er pünktlich um 16.15 Uhr den Raum betritt. Adorno scheint völlig überrascht, läßt sich aber auf keine Diskussionen ein. Später erklärt er der Frankfurter Neuen Presse, er habe eine Störaktion vermutet. (Frankfurter Neue Presse vom 23. April 1969, „Adorno wollte sich nicht küssen lassen – Basisgruppe Soziologie sprengte mit Blumenmädchen eine Vorlesung“).
Die erste Reaktion von Adorno
„Soll meine Vorlesung nun stattfinden oder nicht?“, fragt er die Versammelten. „Ich gebe Ihnen fünf Minuten, die Fragen untereinander austragen zu lassen.“ Damit verläßt er das Rednerpult. Die Vorwürfe der „Basisgruppe Soziologie“, an deren Spitze Günther Amendt steht, richten sich vor allem gegen Adornos Haltung im Zusammenhang mit der Räumung des Instituts für Sozialforschung. Bereits vor der Vorlesung hat man diese Kritik auf einem hundertfach verteilten Flugblatt folgendermaßen formuliert:
„Bei einer Diskussion im Institut für Sozialforschung, mit der er (Adorno) sich nicht ganz einverstanden fühlte, holte er mit seinem Freund Ludwig einige Hundertschaften Polizei und ließ jeden der 76 Diskutierenden von diesen abtransportieren.“
Adorno kehrt nach fünf Minuten in den Hörsaal zurück
Adorno, wieder an das Mikrofon zurückgekehrt, erklärt dazu, er sei „nicht verstanden worden“. Zwischenrufe aus dem Plenum: „Dann drücken Sie sich deutsch aus, so daß man Sie versteht.“ Adorno erwidert, bei der Besetzung des Instituts für Sozialforschung im letzten Semester habe er erst dann als „Hausherr“ die Polizei gerufen, nachdem die Studenten seiner mehrmaligen Aufforderung, das Institut zu verlassen, nicht nachgekommen seien.
Das „Busenattentat“
Während er dies mitteilt, springen drei langhaarige Studentinnen in Lederjacken und Blue Jeans auf das Podium, bestreuen Adornos Kopf mit roten Blumen, umarmen ihn und versuchen, ihn zu küssen, was einem der „Blumenmädchen“ auch gelingt. Schließlich entblößen sie ihre Busen. Adorno wehrt sich mit hochrotem Kopf, sträubt sich heftig, fuchtelt mit den Armen und befreit sich schließlich aus der Umklammerung.
Adorno verlässt fluchtartig den Hörsaal
Mit zerzausten Haaren, seinen Mantel über den linken Arm, seinen Hut in der rechten Hand, verlässt er empört den Hörsaal. Rund hundert der anwesenden Studenten folgen ihm; der Rest diskutiert mit den Mitgliedern der Basisgruppe weiter. „Dummschwätzer“ bekommen sie immer wieder zu hören. Sie erwidern, man werde Adorno, „nicht mehr einfach reden lassen“, man müsse ihn „mit der neuen Realität konfrontieren“. Aus dem Plenum der noch immer anwesenden rund 900 Zuhörer erhebt sich daraufhin einer der Anwesenden und ruft unter stürmischem Beifall:
„Meine Kritik richtet sich nicht gegen die inhaltlichen Forderungen der Basisgruppe, aber daß hier Blumenmädchen Adorno küssen, ist nichts als das Eingeständnis, daß man ihm an Argumenten nichts entgegenzusetzen hat.“
Frankfurter Neue Presse vom 23. April 1969, „Adorno wollte sich nicht küssen lassen – Basisgruppe Soziologie sprengte mit Blumenmädchen eine Vorlesung“
Adorno kehrt nicht zurück
Die Diskussionen dauern noch bis 17 Uhr. Adorno selbst erscheint nicht mehr (siehe hierzu: Frankfurter Rundschau vom 24. April 1969, „Adorno als Institution ist tot – Wie der Bewußtseinsveränderer aus dem Hörsaal gejagt wurde“).
Der Bericht von Hans-Klaus Heinrich
Eindringlich schildert und kommentiert Hans-Klaus Jungheinrich die Ereignisse im Verlauf der Veranstaltung:
„Der überfüllte Hörsaal VI in der Frankfurter Universität wurde zum Tribunal. Theodor W. Adorno, dessen philosophische Hauptvorlesung ‘Einführung in die Dialektik’ angekündigt war, hatte den Saal noch nicht betreten, als bereits feststand: hier sollte abgerechnet werden. Die dem SDS nahestehende ‘Basisgruppe Soziologie’ hatte zwei Handzettel ausgeworfen, in denen der Professor zur ‘Öffentlichen Selbstkritik’ aufgefordert wurde und ihm das Recht abgesprochen wurde, ‘sein Handeln mit dialektischem Geschwätz zu vertuschen’. Fazit des Agitationsblattes: ‘Adorno als Institution ist tot‘. – Als Adorno kam, konnte von ‘Institution’ keine Rede sein; ein einzelner arbeitete sich da zum Podium vor, zum Mikrophon, offensichtlich irritiert. Kaum hatte der Professor zum Reden angesetzt, als er durch ein unartikuliertes, auswendiggelerntes Statement vom hinteren Saalende unterbrochen wurde. Gleichzeitig war einer dabei, den Spruch ‘Wer nur den lieben Adorno läßt walten, der wird den Kapitalismus sein Leben lang behalten’ an die Tafel zu malen. Noch einmal versuchte Adorno, zu Erklärungen anzusetzen. Flankiert von zwei baumlangen Opponenten, die ihm immer näher zu Leibe rückten, mochte er subjektiv den Eindruck physischer Bedrohung gewonnen haben. Ihren peinlichen und peinigenden Höhepunkt erreichte die Szene, als einige Mädchen den Professor umringten, ihm Nelken ins Gesicht warfen und eine unzweideutige Annäherungspantomime vollführten. Peinlich war dies nicht nur als dumme Anspielung, sondern auch als sichtlich einstudierte Vorführung. Nun war erreicht, was die Basisgruppe wohl gewünscht hatte: Adorno aus dem Saal gejagt, Studenten unter sich, um die Aktion zu diskutieren. – Diskutieren? Was wäre noch zu diskutieren gewesen, wo bereits präjudiziert worden war? Ein großer Teil des Auditoriums hatte Adorno hören wollen. Ein kleinerer, aktiver Teil hätte Adorno nicht einmal zugehört, wenn er wirklich zur ‘Selbstkritik’ angesetzt hätte. Die Fronten sind klar. Der SDS wirft Adorno vor allem vor, daß er zusammen mit seinem Kollegen von Friedeburg einen Polizeieinsatz zur Räumung des besetzten Soziologeninstituts angefordert hat. Damit, so scheint es den ‘linken’ Studenten, hat Adorno das Tischtuch zu den Praktikern der politisch bewußten Studentenbewegung zerschnitten. Indes: der Riß reicht tiefer. Er ist in Adornos Abstinenz gegenüber revolutionärer Praxis begründet. Der ‘kritische Theoretiker’ sieht sich nicht in der Lage, als Messias einer aktiven, militanten Front antiautoritärer Intellektueller voranzuleuchten. – Das können die politischen Bewußtseinsveränderer Adorno nicht verzeihen: Er gab ihnen das kritische Vokabular zur dialektischen Gesellschaftsanalyse, ließ sie aber im – für sie – entscheidenden Augenblick allein: als es darum ging, Theorie in Praxis zu übersetzen. Wer dies Adorno anmaßend oder moralisierend zum Vorwurf macht, wer auf der Theorie-Praxis-Korrelation bei Adorno insistiert, vergißt freilich eine andere, genauso wichtige Korrelation: die zwischen dem Denken des Professors und seiner Biographie. Adornos Skepsis gegenüber politischer Praxis resultiert nicht nur aus seinem Denkansatz, sondern auch aus dem ‘faschistischen Trauma’ der Emigrantenzeit. Wer den Faschisten am eigenen Leib gespürt hat, wird notwendig allergisch gegen den kleinsten Anflug von Terror. Ohne Gewalt, ohne terroristische Momente sind die dem SDS vorschwebenden Umwälzungsprozesse aber undenkbar. Adorno weiter zur Weggenossenschaft zwingen zu wollen, wäre daher ein schlicht inhumanes Beginnen. – Heißt die Alternative nun lapidar, Adorno habe fortan gar nichts mehr zu sagen und solle gefälligst verschwinden? Warum denn das? Abgesehen davon, daß der SDS nicht monopolistisch darüber wird entscheiden können, ob die Studenten einen Professor hören wollen oder nicht, ist zu überlegen, ob nicht auch die Beibehaltung politischer Praxisnähe die Beschäftigung mit theoretischer Reflexion parallel zur Praxis und unabhängig von ihr gestaltet. Bis jetzt scheint es, als könnte die Mehrzahl der Protestierenden recht gut noch ein paar Semester Adorno vertragen. – Die Sprengung der Philosophie-Vorlesung, die vielleicht zur Folge hat, daß Adorno in diesem Semester überhaupt nicht mehr an der Frankfurter Universität agiert, war jedenfalls für die Linken ein Eigentor. Das Anrüpeln Adornos signalisiert fürwahr keinen unbürgerlich neuen Stil, wie ein Diskussionsredner apologetisch meinte, sondern ein vorbürgerliches, überhaupt vor-zivilisatorisches Rückfallen in Barbarei.
Frankfurter Rundschau vom 24. April 1969, „Adorno als Institution ist tot – Wie der Bewußtseinsveränderer aus dem Hörsaal gejagt wurde„
Die Aktion des SDS aus der Sicht von Rudolf zur Lippe
Rudolf zur Lippe beschreibt die damalige Situation aus einer besonderen Perspektive:
„Die erste Sitzung des Soziologischen Seminars von Adorno im Sommersemester 1969. Ein moderner Hörsaal für mindestens fünfhundert Menschen war fast gefüllt. Also eher die Stimmung einer der großen Vorlesungen, wie sie durch die fünfziger und die sechziger Jahre Frankfurter Universitäts‑ und Stadtgeschichte gemacht hatten. Doch die Damen aus elegantem Frankfurter oder hessischem Hause blieben inzwischen fern. Die Atmosphäre war insofern versachlicht, als die gesellige oder gesellschaftliche Seite der beliebten Vorlesungen berühmter akademischer Lehrer, wie ich sie selbst bei den Veranstaltungen des wahrhaft trockeneren Historikers Conze in Heidelberg erlebt hatte, fehlte. Adorno dürfte schon als belastende Spannung empfunden haben, daß nun kaum jemand seinem Blick erwartungsvoll zu begegnen bereit war. Wie völlig unwiderstehlich war ihm immer der Anblick junger Damen gewesen. Einer hübschen Figur nachblickend hatte er früher, so wird noch heute erzählt, seine Ausführungen fortzusetzen aufgehört. Ich habe das nicht erlebt; nur, daß er in ganz ungeeigneten Situationen sich plötzlich zu einem Handkuß hinreißen ließ, offensichtlich, weil dies die einzig mit den Formen vereinbare Annäherung einer reizvollen weiblichen Erscheinung gegenüber schien. Jene Aktion, die ihn am heftigsten verletzte, hat darauf gezielt. Frauen waren mit nackten Brüsten um sein Rednerpodium gegen ihn aufgetreten. Diese Brutalität in dem ihm Kostbarsten hat ihn zutiefst getroffen. Vielleicht ist auch eine Spur alter Scham dabei aufgebrochen.“
Lippe, Rudolf zur: Die Frankfurter Studentenbewegung und Adorno. In: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Band 3, Seite 119
Im Tagesspiegel vom 7. Dezember 2002 äußert sich Hannah Weitemeier – eine der damaligen Aktionistinnen zu „Busenattentat“ in der Rückschau
„Die Zumutung des Fleisches
Sie war 26, unter der Pythonjacke trug sie nichts, als sie in der Philosophievorlesung zu Adorno ans Pult lief. Es sollte ein Happening werden. Dann sah sie seine Augen – plötzlich war es ernst. Heute will keiner mehr etwas vom „Busenattentat“ wissen. Suche hinter einer Mauer später Scham. Tanja Stelzer
Gäbe es das Foto nicht, die Sache wäre vielleicht längst vergessen. Das Schwarzweißbild vom 22. April 1969 zeigt einen alten Mann mit fliegendem weißen Haar und irritiertem Blick, vielleicht steckt auch Angst darin. Es ist der berühmte Philosoph Adorno, er steht im Hörsaal VI der Frankfurter Universität auf dem Podium. Der große Intellektuelle scheint nicht zu verstehen. Er ist umringt von drei Studentinnen. Zwei sind nur schemenhaft zu erkennen, die dritte sieht direkt in die Kamera: ein schönes, strahlendes Gesicht, langes blondes Haar. Der Grund für die Aufregung ist auf dem verwischten Bild nicht auszumachen: Die drei Frauen tragen blanke Brüste unter ihren Mänteln.
Immer diese alte Geschichte, sagt Alfred von Meysenbug, der die Szene festgehalten hat, die den seltsamen Namen Busenattentat erhielt. Er hat schon befürchtet, dass es wieder mal darum gehe, aber er werde nicht reden, Nicht einmal am Telefon. Er klingt genervt. Das Busenattentat sei doch völlig unbedeutend, ein läppisches Ereignis. In all den Artikeln zum 100. Adorno-Geburtstag sei darüber geschrieben worden, und immer wieder werde dieses Foto gedruckt, sein Foto, wie neulich im „Spiegel“, obwohl er das untersagt habe. Das Bild dürfe auf keinen Fall mehr verwendet werden. Er schickt Briefe hinterher, die das unter der Androhung bekräftigen, er werde bei Zuwiderhandlung mit allen juristischen Mitteln dagegen vorgehen.
So ging die Szene weiter, nachdem das verbotene Bild gemacht war: Als die halb nackten Frauen Blüten auf das Haupt des Professors rieseln ließen und versuchten, ihn zu umarmen, nahm der Philosoph seine Aktentasche, hielt sie sich schützend vors Gesicht und tippelte rückwärts aus dem Saal. Es war eines der Bilder, die haften blieben von Adorno: ein erniedrigter alter Mann. Und an den 68ern blieb ein schwerer Verdacht kleben. Sie hatten ihre Eltern der Demütigung angeklagt, und nun hatten sie selbst gedemütigt. Das Opfer war, ausgerechnet, ein Gelehrter jüdischer Abstammung, der vor den Nazis geflohen war.
Das Jahr des Busenattentats an der Frankfurter Universität: Die Studentenbewegung hatte sich radikalisiert, im Januar hatten Studenten Adornos Institut für Sozialforschung besetzt. Der Philosoph holte die Polizei; deswegen forderten ihn Studenten in der Vorlesung vom 22. April zur Selbstkritik auf. Gleich darauf traten die entblößten Frauen auf. Was sie wollten, weiß noch heute keiner so recht, auch nicht, wie sie ihre Vergangenheit heute sehen. Vielleicht kann die schöne Frau auf dem Foto das Rätsel lösen.
Aber die Zeitzeugen wollen die Identität der Busenattentäterinnen nicht preisgeben. Alfred von Meysenbug gehörte damals zur Lederjackenfraktion, einer Splittergruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS); ihr wird das Busenattentat zugeschrieben. In den 70er und 80er Jahren hat der Comiczeichner Meysenbug einige Cover für Udo-Lindenberg-Platten gestaltet, heute ist er Lindenbergs engster Berater. Er sagt: „Ich nenne keine Namen.“ Der Satz kehrt wieder wie ein Mantra, wenn man in der damaligen Frankfurter Szene recherchiert.
Das große Schweigen
Eine Feministin der ersten Stunde, die Lektorin geworden ist, findet das Busenattentat „brutal“, „eine Schweinerei“. Sie kenne eine der Frauen, aber wenn sie den Namen verrate, sei sie enttarnt.
Eine andere, die dem Weiberrat des SDS angehörte und angeblich an der Planung der Aktion beteiligt gewesen sein soll, bestreitet das. Jedes weitere Gespräch lehnt sie kategorisch ab: „Über damals rede ich nicht mehr.“
Selbst der mediengewandte Günter Amendt, einst in der Clique um Alfred von Meysenbug, inzwischen Soziologe und beliebter Interviewpartner in Drogenfragen, will sich nicht zitieren lassen. Es müsse reichen, was er einmal geschrieben habe: Es gebe nur einen schwarzen Fleck in seiner Biografie – jenen 22. April 1969. Ein anderer Weggefährte von damals ist heute ein prominenter Kunstprofessor. Er gibt, ganz konspirativ, einen Tipp: Man müsse nach einer Frau suchen, die in den 80er Jahren in West-Berlin als Kuratorin gearbeitet habe.
Vielleicht ist das Busenattentat nicht mehr als eine Episode einer turbulenten Zeit. Doch irgendeine tiefere, offenbar unbequeme Wahrheit muss darin stecken. Ausgerechnet jene, die gegen das Verdrängen unliebsamer Erinnerungen protestiert hatten, scheinen einen Schwur geleistet zu haben: Die alte Geschichte ruhen zu lassen, sie zu vergessen, als könne man sie damit ungeschehen machen. Nur einer, der Filmer Gerd Conradt, Autor einer Dokumentation über den RAF-Terroristen Holger Meins, sieht keinen Grund, das Busenattentat aus der Erinnerung zu streichen. Es sei zugleich provokant und gewaltfrei gewesen – „so war 68 wunderbar“. Aber bei der Suche nach der schönen Frau kann auch er nicht helfen.
Ganz unverhofft taucht sie dann doch noch auf. Einem der alten Lederjackenjungs fällt ihr Vorname ein; einer anderen Weggefährtin lässt sich der Nachname abringen, dazu gibt sie den Hinweis: „Die redet sowieso nicht mit Ihnen.“
Aber Hannah Weitemeier redet doch. Eine Frau für den großen Auftritt ist sie noch immer. Sie schreitet durch den Vorgarten zum Gartentörchen, als laufe sie auf einem Catwalk, nur dass ihre Schritte ein wenig zu ausladend sind, fast ein bisschen machohaft. Ihre langen, schlanken Beine bringt sie in einer Hose mit leichtem Schlag zur Geltung. Darunter schauen die Spitzen eines Paars Cowboystiefel hervor, aber am liebsten, erzählt sie, noch bevor sie ins Haus bittet, spaziert sie auf High Heels über die sandigen Straßen und Bürgersteige des Orts. Hannah Weitemeier sagt, sie sei „stolz darauf“, dass sie sich hier integriert habe, dass die Nachbarn sie akzeptieren, den schrägen Vogel aus dem Westen.
Die schöne Hannah, 60 Jahre, inzwischen grau-, aber noch immer langhaarig, mit einem Gesicht, das gelebt hat, wohnt in einem kleinen Haus in Königs Wusterhausen. Es ist provisorisch hergerichtet: ein unverhofftes Erbe, das ihr und ihren Geschwistern nach dem Ende der DDR zufiel. Der Garten ist verwildert, die Äpfel faulen am Boden. Die Nachbarhäuser, verkleidet mit Holzpaneelen und Rauputz, atmen die östliche Variante jener Spießigkeit, gegen die sie damals als Studentin rebelliert hatte.
Sie ist Kunsthistorikerin geworden, betreut eine Sammlung von Werken der Künstlergruppe Zero, verfasst Aufsätze für Ausstellungskataloge. Hannah Weitemeier hat ein Buch über Yves Klein geschrieben. „Als ich sein ,Bleu‘ zum ersten Mal sah“, sagt sie, „hatte ich das Gefühl, mein Blut war blau.“ Während des Gesprächs gibt es mehrere Momente wie diesen, in denen sie unerreichbar wirkt, wie in einer anderen Sphäre. Ihre leer gerauchten Zigarettenschachteln, Benson & Hedges im goldenen Päckchen, hat sie in einem Korb neben dem Kachelofen im Wohnzimmer gestapelt, man könnte denken: eine Installation. Auf einmal ist sie wieder ganz da. Sie wehrt ab: „Selbst Künstler sein, das kann ich nicht.“ Adorno, ja, der sei ein wahrer Künstler gewesen, „er hat Himmel und Hölle verbunden“.
Sie gehörte nicht zur nahen Adorno-Gefolgschaft, war nie eine von denen, die ihn Teddy nannten, aber die Schlagworte der Frankfurter Schule gehen ihr noch immer gut über die Lippen. „Immanenz der Transzendenz“ – wie sie das so vor sich hinsagt, wirkt es, als wolle sie noch einmal die gute alte Zeit schmecken. Sie erzählt von der sakralen Atmosphäre, die in Adornos Vorlesungen herrschte: Stille, man wartete, er tänzelte rein und sprach frei, mit dieser wunderbaren Stimme, die sie noch immer im Ohr hat. Die verschachtelten Sätze, denen man nicht immer folgen konnte, waren Musik, eine wunderbare Partitur. Wie in der Kirche war es und Adorno ihr Gott.
Sie waren zu dritt, erinnert sich Hannah Weitemeier. Eine der beiden anderen Frauen taucht nach weiteren Recherchen auf. Sie ist bereit, am Telefon zu reden, wenn das Gespräch anonym bleibt. Sie dürfe auf keinen Fall erkennbar sein, so sehr schäme sie sich noch heute, sagt die Frau. Auf dem Foto, das Alfred von Meysenbug gemacht hat, steht sie hinter dem Philosophen, kaum mehr als ein Schatten, und ein wenig schattenhaft klingt jetzt auch ihre Stimme.
„Das galt als schick“
In Frankfurt war sie gar nicht als Studentin eingeschrieben. Sie arbeitete im Kinderladen, schaute nur ab und zu mal beim SDS vorbei und hörte sich Adorno an, auch wenn sie bloß Bruchteile verstand – „das galt damals als schick“. Es war eine Zeit, in der „man sich zu Sachen hinreißen ließ“. So wie es Ehrensache war, an den Stäben des Filmer Gerd Conradt zu rütteln, weil sie da keine Langhaarigen reinließen, so habe sie auch sofort ja zur Adorno-Aktion gesagt, als ein Freund sie gefragt habe. Sie ist von zu Hause losgegangen, die nackten Brüste unter dem Mantel, und fand sich toll. Auf dem Podium dann habe die Sache „auf einmal so eine Ernsthaftigkeit“ bekommen. „Da sah ich diese Augen. Ich bin sofort runtergeklettert.“
Wie also muss man das Busenattentat verstehen? War es vielleicht das erste Lebenszeichen des Feminismus, wollten die jungen Frauen neben den Machos der Lederjackenfraktion auch mal zu ihrem Recht kommen? Durch die Telefonleitung dringt ein müdes Lachen. „Feminismus? So viel Nachdenken war nicht drin.“
Die Frau ohne Namen wirkt ernsthaft zerknirscht. Das Busenattentat, findet sie, „beschmutzt das Bild von Adorno“. Wenn überhaupt, dann habe die Aktion nur einen Sinn gehabt, für sie persönlich: Sie kapierte, dass sie sich nicht gedankenlos mitreißen lassen durfte; es schwirrten ja eine Menge RAF-Leute in Frankfurt herum. „Ich merkte, ich mache was mit, was ich vielleicht gar nicht will.“ Sie klingt, als sei sie froh, noch einmal davongekommen zu sein. Zum Glück, das schwingt in ihrer Stimme mit, hat man sie damals nicht gefragt, ob sie bei anderen Dingen mitmachen wollte.
Es ist kühl im Haus, Hannah Weitemeier wärmt sich mit Kaffee aus der Thermoskanne. Robert Gernhardt hatte die Brüste der Busenattentäterinnen noch drei Jahrzehnte später bedichtet mit den Worten „nackig, unbeschreiblich weiblich,/knackig, unbegreiflich leiblich,/lockend, drängend, wogend, prangend,/einen ganzen Mann verlangend“. Hannah Weitemeiers berühmter Busen steckt jetzt unter einer lila Strickjacke. Damals, erzählt sie, trug sie eine Pythonjacke und nichts drunter, um den Hals und im Haar bunte Blumen. „Wir tanzten auf der Bühne, dazu spielte Musik, irgendwas Rockiges.“
Es sollte eine lustige Aktion werden, ein Happening. Sie war 26 und gerade mit einem Stipendium ein halbes Jahr in New York gewesen, hatte einen Abend in Andy Warhols verrückter Factory verbracht, ein anderer Deutscher hatte sie mitgenommen, und dann hatte Andy sie eingeladen, eine Skulptur zu schweißen. Jetzt wollten Hannah und ihre Freunde ein bisschen Andy Warhol nach Frankfurt bringen. Und außerdem, natürlich, wollten sie sich über Adornos Verhältnis zu den Frauen lustig machen. Adornos viele Liebesaffären waren bekannt, und „während der Vorlesung ließ er immer seine braunen Augen die erste Reihe entlangwandern, von einer blonden langhaarigen Studentin zur nächsten“. Obwohl blond und langhaarig, saß Hannah Weitemeier selbst nie in der ersten Reihe, sondern „etwas weiter hinten, am Rand“. Es sei ihr Freund Alfred von Meysenbug gewesen, Meyse, der gesagt habe, aus Adornos Schwäche für die Frauen „müssen wir ’n Spaß machen“.
Meyse habe sein Foto gemacht, wie oft damals; die Bilder dienten ihm als Vorlage für seine Comics. Nach zwei Minuten sei der Spuk vorbei gewesen. Nicht daran zu denken, dass die Geschichte mal dieses Ausmaß annehmen würde.
Die Frau mit der Schattenstimme will noch etwas fragen: Warum man diese Geschichte nach 34 Jahren ausgrabe? Habe das nicht etwas mit der gesellschaftlichen Situation heute zu tun, so wie man auf einmal über die Homosexualität von Thomas Mann schreibe? Liege es nicht an den blanken Brüsten, dass wir uns dafür interessieren?
Wir fragen zurück: Warum will man verhindern, dass ein Foto gedruckt wird, das ein Stück Zeitgeschichte ist? „Weil es nichts ist, worauf man stolz sein kann.“
Am 22. April 1969 waren noch mehr Frauen präpariert, sich vor Adorno zu entblößen, das sagen mehrere Zeitzeugen. Getraut haben sich aber nur drei. Die anderen blieben auf ihren Klappsitzen hocken, ließen ihre Jacken zu. An ihnen ist die Geschichte noch einmal vorübergegangen, nicht an Hannah Weitemeier und an der Frau ohne Namen. Es ist, als hätte der Geist der Zeit sie auf dieses Hörsaal-Podium gehievt, und nun kommen sie nicht mehr herunter. Ein „Zufall des Lebens“ sei es, dass sie diese Rolle gespielt habe, sagt Hannah Weitemeier.
Sie lebte in einer Wohngemeinschaft mit Meyse in der Leerbachstraße, wo jedes Zimmer eine andere Farbe hatte, ihres war rot-weiß. Meyse sah ein bisschen aus wie Warhol, „bei ihm war immer was los“. Hannah Weitemeier beginnt zu erzählen vom WG-Leben. Ihr Exkurs hat auf den ersten Blick wenig mit dem Busenattentat zu tun; auf den zweiten Blick aber erklärt er, was mit Hannah Weitemeier geschah in jenem Jahr 1969. Die Wohngemeinschaft war ein Mikrokosmos, in dem eine neue Gesellschaft ausprobiert wurde. In einem Raum schliefen ein paar Jugendliche auf Matratzen. Es waren Schützlinge von Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Nach ihrer ersten terroristischen Tat, der Brandstiftung im Frankfurter Kaufhaus Schneider im April 1968, waren Baader und Ensslin zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Im Sommer 1969 warteten sie auf ihr Revisionsverfahren und durften das Gefängnis verlassen. Die Zeit nutzten sie für die so genannte Lehrlingsaktion: Sie befreiten Jugendliche aus streng geführten Fürsorgeheimen und quartierten sie in Frankfurter Wohngemeinschaften ein. Es war eine der Vorläuferaktionen der RAF: ein Schritt, der sich gegen staatliche Repression richtete, nicht wirklich gewaltsam, aber auch nicht mehr legal.
Meyse, Hannah und ihre Freunde kümmerten sich um die Jugendlichen, beschafften ihnen Ausbildungsplätze. Hannah Weitemeier kramt ein Bild aus einem Stapel, das ein bisschen wie ein altes Klassenfoto aussieht; Andreas Baader ist auch darauf. Einer der früheren Lehrlinge hat ihr vor kurzem die Aufnahme als Postkarte geschickt und ihr Gesicht mit Kuli umkreist. Auf der Rückseite ein ungelenk geschriebener Gruß an die „liebe Hannah“.
„Meine Lehrlinge“ sagt sie noch heute, fast zärtlich. Sie wollte die Jugendlichen in die Gesellschaft integrieren, Baader wollte sie für eine Revoluzzertruppe rekrutieren. Manche von ihnen bastelten sich Pistolen, irgendwann ging in der Wohngemeinschaft aus Versehen ein Schuss los. Für die Jungs war das ein Spiel, Andreas Baader „ihr Hero“. „Was für ein blutiger Ernst sich daraus entwickelte“, sagt Hannah Weitemeier, „konnte ich damals noch nicht absehen.“ Jetzt, wo es um Baader geht, redet sie viel zu laut, als habe jemand am Lautstärkeregler gedreht. Einmal springt sie auf und macht Baader nach: wie er bei ihrer ersten Begegnung durch den Flur der Wohngemeinschaft rannte und randalierte, „der hatte eine Ausstrahlung wie ein Gangsterboss“. Gudrun Ensslin lief hinter ihm her, „wie ein schüchternes Reh“. Baader habe angefangen, sie, Hannah, zu beschimpfen, da habe sie sich mit ihm geprügelt. Noch immer wirkt sie aufgebracht, dann besinnt sie sich, entschuldigt sich. „Ich hasse den heute noch.“
Auf einmal ahnt man das Gewaltsame, Emotionale der Zeit, der gesellschaftliche Umbruch ist jetzt physisch zu spüren. Sie standen an der Schwelle zur Gewalt, und viele von ihnen hatten die Entscheidung zu treffen: Will ich weitergehen? Manchmal habe sie das Gefühl, ein Engel habe sie davor bewahrt, sagt Hannah Weitemeier.
Der Stein in der Hand
Sie hatte ihre Entscheidung am 4.November 1968 getroffen, in Berlin. Der SDS hatte zur Demonstration aufgerufen, als ein Prozess gegen Horst Mahler wegen seiner Beteiligung an den Anti-Springer-Ausschreitungen lief. Am Tegeler Weg rückte die Polizei mit Wasserwerfern an; Demonstranten warfen Steine. Hannah Weitemeier stand mittendrin und hatte Angst. Sie wollte raus aus dem Gewühl, da drückte ihr irgendjemand einen Stein in die Hand. „Ich habe diesen Stein angeguckt und wusste: Ich kann das nicht. Gewalt, das war nicht mein Ding.“
Auch der 22. April 1969 war einer jener Tage, an denen man sich entscheiden musste, wie weit man gehen wollte. Für Hannah Weitemeier war es der Tag, an dem sie zu weit gegangen ist. Dass Adorno, der von Hitler vertriebene Professor, der zurückgekehrte Emigrant, auch das Busenattentat als Gewaltakt begreifen konnte, vielleicht sogar musste, hat Hannah Weitemeier nicht geahnt. Ein wenig seltsam findet sie die Vorstellung noch heute: „Ein weiblicher Körper ist ja keine Waffe.“ Bereut habe sie die Aktion trotzdem sofort, „wir fanden uns danach gar nicht so toll“.
Das Busenattentat sei keine politische Aktion gewesen, „ich war nicht so politisch“. Sie sagt das, als sei es eine mögliche Entschuldigung, aber vielleicht war das, im Gegenteil, gerade das Problem. Sie gibt zu: Viel zu naiv sei sie gewesen, über die Biografie ihres Professors habe sie nichts gewusst. Heute verstehe sie, „dass Angst etwas ganz anderes für ihn war, gerade wegen seiner Herkunft“. Und das passierte ausgerechnet ihr, deren Familie sich immer für Juden engagiert hatte. „Hier in diesem Haus“, sagt sie, „haben meine Eltern im Krieg Juden versteckt.“
Der Ausdruck, der sich nun in Hannah Weitemeiers Gesicht abzeichnet, ist wohl das, was der Soziologe und 68er-Experte Heinz Bude als „Erschrecken über die eigene Unbedarftheit“ bezeichnet. Wie verwundbar Adorno war, lässt ein Zitat des Philosophen aus einem Brief an Marcuse ahnen: „Hier in Frankfurt“, schrieb Adorno, „wird das Wort Ordinarius gebraucht, um Menschen abzutun, oder, wie sie es so schön nennen, ,fertigzumachen‘, wie seinerzeit von den Nazis das Wort Jude.“ Da habe Adorno „maßlos übertrieben“, sagt Bude. In dem, was sich am 22. April 1969 im Hörsaal VI abspielte, sieht er dennoch ein „Symbol für das schlechte Gewissen der 68er Generation“. Die Studenten, sagt er, hätten die Großvätergeneration als ihre Fürsprecher genommen, „eine Art von intellektuellem Missbrauch“. Adorno sprach über den Schuldkomplex der Davongekommenen. Die Studenten, die seine Vorlesung zu Tausenden besuchten, „hatten das Gefühl: Er spricht über uns“: Als Kinder waren sie noch einmal vor dem Krieg davongekommen, nun begehrten sie gegen ihre Nazi-Eltern auf. Aber Adorno, sagt Bude, habe von einem ganz anderen Davongekommensein gesprochen; er habe immer auch als Holocaust-Überlebender geredet. Im Moment der Demütigung, vermutet Bude, hätten die Studenten „das Schicksal dieses Mannes gesehen“. Daher rühre das Schweigen der Beteiligten.
Vor dem Treffen hatte sich Hannah Weitemeier Bedenkzeit auserbeten. Es sei nicht einfach, sich zu outen, auch nach so langer Zeit nicht. Sie hatte sich vor allem wegen einer Legende gesorgt, lange widerlegt und trotzdem noch immer wirkungsvoll: Die barbusigen Studentinnen hätten Adorno sozusagen zu Tode erschreckt. Denn das blieb hängen: An jenem Tag waren im Hörsaal auch Flugblätter verteilt worden, auf denen stand „Adorno als Institution ist tot“. Drei Monate später starb der Philosoph wirklich, nach einem Ausflug auf 3000 Meter Höhe in der Nähe des Matterhorns. Heute sind sich die Biografen einig, dass Adornos schwaches Herz an seinem Tod schuld war, nicht das Ereignis im Hörsaal VI, dann noch eher eine unglückliche Liebe, die ihm das Leben schwer machte. Das beruhigte die Busenattentäterin.
Abschied von der Revolution
Als Adorno im August starb, waren Semesterferien. Sie habe das damals gar nicht mitbekommen, sagt Hannah Weitemeier. Sie sei wohl mit den Lehrlingen beschäftigt gewesen, habe im Kinderladen gearbeitet. Im Oktober lernte sie ihre große Liebe kennen. Sie ging nach Berlin, ließ Meyse und die Frankfurter Wohngemeinschaft zurück, all die revolutionäre Stimmung. Ein paar Mal war sie noch bei der Kommune 1 und der Kommune 2 zu Besuch. Doch mit den Matratzenlagern, mit der freien Liebe habe sich die Bewegung „unheimlich verflacht“, und ihr Leben „war da schon anderswo“. Mit ihrem Mann, mit dem sie bis 1982 verheiratet war, bekam sie zwei Kinder. Sie organisierte Ausstellungen, ihre Berliner Wohnung verwandelte sich zeitweise in einen künstlerischen Salon. Sie tauchte ab in die Welt der Kunst, in der sie noch heute lebt. Das Busenattentat verstaute sie irgendwo ganz hinten in ihrer Erinnerung.
Jetzt, am Ende des Gesprächs, steht sie „sprachlos vor dem Ausmaß, das diese Geschichte angenommen hat“. 68, für sie war das eine gute Zeit, „die freieste, die wir je hatten“. Aber es gab Momente, da kippte der Kampf für die Freiheit ins Unfreie. Die Gefahr eines Faschismus von links, von der die Rede war, sei ja kein Hirngespinst gewesen, sagt Hannah Weitemeier. Sie hat die Pistolen in der Wohngemeinschaft gesehen.
Und Adorno? 34 Jahre sind vergangen, eine Zeit, in der sie sich nicht viele Gedanken über das Busenattentat gemacht hat. Sie müsse sich für nichts in ihrem Leben verstecken, sagt sie, aber dann fügt sie noch einen Satz hinzu: „Wäre ich tot und würde Adorno begegnen, ich würde ihn bitten, dass er mir vergibt.“ Ihrem Satz guckt sie hinterher, als müsste sie noch entscheiden, ob er so stehen bleiben kann oder ob er ein wenig zu pathetisch geraten ist.“
Guido Knopp verbreitet das Tränengerücht
In den Aschaffenburger Gesprächen mit dem Thema „Die 68er – Fluch oder Segen?“ präsentiert Guido Knopp am 20. April 2011 „als Augenzeuge” der letzten Vorlesung Theodor Adornos“ im Fernsehsender „Phoenix“ eine abweichende Tränenversion. Zitat:
„Liebe Leute, ich hab dazu eine Anekdote beizutragen: Ich war damals auch Student, 1. Semester 1968, letzte Vorlesung Adornos, Augenzeuge, drei Studentinnen des SDS stürmen zum Pult, ziehen ihre Pullis aus, darunter trugen sie natürlich nichts, denn damals galten Büstenhalter als reaktionär, die Damen bildeten einen Kreis, umtanzten Adorno, der war recht klein, sie waren groß, der ganze Hörsaal lachte, es war gemeint als Happening, aber er, der alte Mann empfand das als Verhöhnung und Verspottung und er als Opfer des Nazideutschlands brach in Tränen aus und kam nie wieder in die Uni.”
Aschaffenburger Gespräche mit dem Thema „Die 68er – Fluch oder Segen?
Das Tränengerücht in der Kritik von Marcel Beyer
Marcel Beyer thematisiert im Jahr 2017 das „Busenattentat“ in seinem Bestseller „Das blindgeweinte Jahrhundert“. Er beschäftigt sich rätselnd mit der Frage, ob Adorno im Verlauf der Attacke tatsächlich in Tränen ausgebrochen ist. Anlass dieser Frage ist für ihn ein Bericht in der Bayerischen Staatszeitung vom 1. Februar 2013 über Guido Knopp, „den Chefhistoriker des ZDF“, der als Student am 22. April 1969 die Vorlesung Adornos besucht habe. Drei Studentinnen seien auf die Bühne gestürmt, hätten sich die Ledermäntel vom Leib gerissen und seien dann barbusig um den 65-Jährigen herumgehüpft. Adorno seien „Kullertränen aus den Augen herausgetropft. Adorno lässt die Tasche sinken und verlässt den Hörsaal. Nie wieder wird er an die Uni zurückkehren.”
In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 9 April 2017 kommentiert Marcel Beyer diese Knopp‘schen Phantastereien:
Frage FAS:
„Einer der Texte im Buch handelt von dem sogenannten Busenattentat auf Adorno am 22. April 1969, als Studentinnen in Frankfurt ihm ihre Brüste zeigten. Das ist eine berühmte Szene, die immer wieder beschrieben worden ist. In einer einzigen Beschreibung haben Sie den Hinweis gefunden, dass Adorno daraufhin in Tränen ausgebrochen sei. Und diese Beschreibung stammt ausgerechnet von dem ZDF-Historiker Guido Knopp.“
„Ob Theodor W. Adorno in der Situation, als ihm da zwei junge Frauen mit freiem Oberkörper gegenüberstanden, tatsächlich in Tränen ausgebrochen ist, interessiert mich weniger. Ich bin überzeugt, dass er keine Tränen vergossen hat, weil er einfach die Facon nicht verloren hat. Jemand mit Exilerfahrung und dem Gespür für die Strömungen die in Deutschland auch nach dem Nationalsozialismus präsent waren, demonstrativ sichtbar, als 1959 die Synagogen in Köln und Düsseldorf mit Hakenkreuzen beschmiert wurden – so jemand, denke ich, würde den Deutschen nie den Gefallen tun, Tränen zu vergießen, wenn er bedrängt wird. Das wird gewissermaßen schon auf biochemischer Ebene verhindert. Denn wer weint, und auch das gehört zur deutschen Tränenhistorie wird natürlich erst recht totgeschlagen.„
Frage FAS:
„Was interessiert Sie dann?“
„Ich finde interessant, wie Guido Knopp seine Situation beschreibt. Er erzählt von diesem Erlebnis Ende der neunziger Jahre, als das Tränen-Management schon ein ganz anderes ist, wie ein investigativer Journalist. Guido Knopp erinnert sich, wie er sein Studium in Frankfurt aufnahm, allerdings ohne sich in den Kreis um Adorno zu begeben. Bilddramaturgisch würde man seine Figur im Hörsaal also eher irgendwo am Rand einer der oberen Reihen vermuten. Er aber berichtet, er habe ziemlich weit vorn gesessen. Er befindet sich näher am Geschehen als der Großteil der Zuhörer, und darum scheint seine Aussage eine größere Autorität zu haben. Er sieht das entscheidende Detail, über das sich die gesamte Situation aufschließen lässt. Dabei ist das ja eigentlich Unsinn. Der Preis der Detailwahrnehmung ist das Fehlen der Übersicht – das Gesamtbild können immer nur andere liefern. Guido Knopp nimmt aber für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen. Ja, und zwar in einem Zeitalter, in dem es technische Medien gibt. Guido Knopp nimmt die Position eines Fotografen ein, eines Kriegsberichterstatters. Aber er hat im Hörsaal gar keine Kamera dabei, er kann von der Situation nur erzählen. Superinteressant! Wenn die Medien grundsätzlich lügen, dann ist es sogar viel besser, dass er keine Kamera dabei hatte.„
Frage FAS:
„Sie meinen die technischen Medien?“
„Genau. Denn dann gibt er authentisch Auskunft darüber, dass Adorno authentisch Tränen vergossen hat. Indem er sagt: ,,Ich habe es gesehen!” Nehmen wir mal an, er hätte eine Super-8-Kamera dabeigehabt, dann … … wäre es zu verifizieren. Vor allem hätte es nicht diese Intimität.„
Frage FAS:
„Und die Intimität ist gerade dort, wo es um Tränen geht, wichtig?“
„Ja. Und deshalb kann es auch nur einen einzigen Zeugen für Adornos Tränen geben. Würden hundert Menschen bezeugen, dass Adorno geweint hat, wäre die Intimität hin. Dann hätten wir es mit Theatertränen zutun. Wissen Sie was? Nachdem ich nun schon einige Male öffentlich, diese zweifelhafte Tränengeschichte auseinandergenommen habe, kommen Menschen auf mich zu und meinen: „Ja, Adorno hat aber doch geweint, das weiß man.“ Dreißig Jahre lang hat sich niemand an Tränen während des Busenattentats erinnert, aber in Zukunft wird der Zwischenfall nicht mehr ohne Tränen auskommen, denn der Platz für die ,,hochemotionale Szene” ist mittlerweile fix reserviert.”
Interview mit Marcel Beyer, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9 April 2017
Rudolf Gernhardts Parodie auf das „Busenattentat“
Robert Gernhardts Parodie Das Attentat oder Ein Streich von Pat und Doris oder Eine Wilhelm-Busch-Paraphrase schildert gut 30 Jahre später das sogenannte „Busenattentat“ auf den Philosophen:
Ach, was muß man oft von bösen
Mädchen hören oder lesen!
So zum Beispiel hier von diesen,
Welche Pat und Doris hießen.
Die, anstatt durch weise Lehren
Sich zum Guten zu bekehren,
Oftmals noch darüber lachten
Und sich heimlich lustig machten.Aber wehe, wehe, wehe,
Wenn ich auf das Ende sehe !
Drum ist hier, was sie getrieben,
Auszugsweise aufgeschrieben:
Also lautet der Beschluß.
Daß der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das Abc
Bringt das Mädchen in die Höh’,
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören.
Daß dies mit Verstand geschah,
War Professor Teddie da.Pat und Doris, diese beiden,
Mochten ihn darum nicht leiden.
War’s, weil sie in Seminaren
Nicht die allerbravsten waren,
War’s, weil sie zu wissen wähnten,
Wonach sich die Massen sehnten-:
Was der Prof da von sich gab
Klang in ihren Ohren schlapp.
Abgefuckt und inhaltsleer,
Konterrevolutionär,
Bourgeois und theoretisch,
Stetes Kreisen um den Fetisch
Ratio – und so was rächt sich,
Denn noch schrieb man Neunundsechzig
Und da sann man unverdrossen
Mal auf Go-ins, mal auf Possen,
Um die Profs zu demaskieren
Und der Welt zu demonstrieren,
daß sie unter den Talaren
Machtgeil, stur und muffig waren.
Grade dann, wenn sie in Worten
Jederzeit und allerorten
Das Bestehende verdammten
Und der Schicht, aus der sie stammten,
Feurig die Leviten lasen:
Haltet ein! Bald deckt der Rasen
Euch und eure schwarzen Taten.
Die tagtäglich das verraten,
Was ihr sonst an Werten predigt -:
Glaubt Karl Marx! Ihr seid erledigt!
Denn es kann im falschen Leben
Niemals nie kein richtigs geben!Meister im Levitenlesen
Aber war der Prof. an dessen
Widersprüchen sich die »lieben«
Mädchen Pat und Doris rieben.
Darum sei sogleich verraten.
Was sie mit Adorno taten.Nun war dieser große Lehrer
Von den Damen ein Verehrer,
Was man ohne alle Frage
Nach des Denkens Müh’ und Plage
Einem guten, alten Mann
Auch von Herzen gönnen kann.
Nicht so unsre beiden Kinder,
Die im Weiberrat und in der
Wohngemeinschaft voll einbrachten,
Was sie von dem Denker dachten:
Macho, liberaler Scheißer,
Sprücheklopfer, Fraunaufreißer,
Ein im Widerspruch verstrickter
Objektiv dem Volk entrückter
Tui, der subjektiv nicht raffe,
Daß er nichts als eine Waffe
Sei der Scheiß-Reaktion –
Das genügte, denn bald schon
Riet der ganze Weiberrat
Dergestalt zur raschen Tat,
Daß die beiden lachend schrien:
„Schwestern, stimmt: Da pack’n mer ihn!“Tags darauf in Unifluren
Treffen wir die zwei Figuren,
Die, das sei nicht übersehen,
Aus sehr viel Figur bestehen,
Da Sie nackt, ohn alle Stützen,
Unterm Hemde das besitzen,
Was die jungen wie die reifen
Herren liebend gern begreifen.Eben strebt in sanfter Ruh
Adorno seinem Hörsaal zu,
Und mit Buch und Lesungsheften
Zu gewohnten Denkgeschäften
Lenkt er freudig seine Schritte
In der jungen Menschen Mitte,
Und voll Dankbarkeit sodann
Schaut er Pat und Doris an,
Die, wie ihm zu applaudieren,
Vollreif seinen Weg spalieren.„Ach!“ denkt er, „Die größte Freud
Ist doch die Begrifflichkeit!“Rums! Da ziehn die beiden los,
Und vier Brüste schrecklich groß,
Jäh befreit von allen Stoffen,
Herrlich bloß und gänzlich offen,
Nackig, unbeschreiblich weiblich,
Knackig, unbegreiflich leiblich,
Lockend, drängend, wogend, prangend
Einen ganzen Mann verlangend,
Ragend, dräuend, drohend, schwellend,
Allen Geist in Frage stellend,
Recken sich dem Prof. entgegen,
Welcher stumm erst, dann verlegen,
Dann erschreckt das Weite sucht
Und bei sich den Tag verflucht,
Da er dieser Busen Licht –
Doch so weit sind wir noch nicht.Bleiben wir bei unsern Rangen.
Die sich eiligst wieder fangen,
So geschwind, daß niemand klar ist,
Was hier Einbildung, was wahr ist,
Wer hier was warum entblößte –
Fest steht nur: ‘s kann auch der größte
Denker nicht in Frieden leben,
Wenn Mädchen ihre Hemdchen heben.All das geschah vor langer Zeit,
Doch ist es nicht Vergangenheit.
Das Busen-Attentat gab zwar
Dem Prof. den Rest -: Im gleichen Jahr
Verstarb der Philosoph, jedoch
Pat und Doris gibt es noch.Die eine forscht, die andre lehrt.
Und beide sind gottlob bekehrt
Von den Ideen ihrer Jugend:
Heute decken Halter, Stoff und Tugend
Verläßlich, was den Prof. einst schreckte,
Als es ihm blank entgegenbleckte …Mit der Zeit wird alles heil,
Nur der Teddie hat sein Teil.– Robert Gernhardt –
Aus: „In Zungen reden…“.“
– Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo: Gedichte, S. Fischer, Frankfurt am Main 2002, S. 214
Adorno bricht seine Vorlesungen und das Hauptseminar
für das Sommersemester 1969 ab
Adorno teilt der Frankfurter Neuen Presse zwar auf Anfrage mit, er werde versuchen, seine Vorlesung zu halten. Die radikalen Störenfriede seien eine „relativ sehr kleine Minderheit“, die die überwältigende Mehrheit terrorisiere. Es komme nun darauf an, diese Mehrheit so weit ihre Kräfte sammeln zu lassen, daß sie sich der Radikalen erwehren könne, die sich in einer Art „kollektiver Neurose” ihre Anhänger beliebig suche. Er weigere sich, den Propheten zu spielen und zu spekulieren, wie es weiter gehe. (Siehe hierzu, Frankfurter Neue Presse vom 23.04.69, „Adorno wollte sich nicht küssen lassen – Basisgruppe Soziologie sprengte mit Blumenmädchen eine Vorlesung“.)
Das Schreiben Adornos an den Hessischen Kultusminister
Als allerdings für Donnerstag, den 24. April 1969, 16.15 Uhr im Hörsaal VI eine Gegenveranstaltung angekündigt wird, reagiert er schnell. Er weigert sich, erneut einen Versuch zu unternehmen. In einem an den Hessischen Kultusminister gerichteten Schreiben vom 24. April 1969, den er über den Dekan der Philosophischen Fakultät Rauter und den Rektor leitet, teilt er lapidar folgendes mit:
„Da eine meiner Vorlesungen unter den widerwärtigsten Umständen gesprengt worden ist und die Abhaltung einer zweiten dadurch unmöglich gemacht, daß die aktionistischen Studenten in meinem Hörsaal und für die gleiche Zeit wie meine Vorlesung eine Plenarsitzung anberaumt haben, sehe ich mich nach Rücksprache mit dem Herrn Prorektor zu meinem größten Bedauern gezwungen, die Vorlesung auf unbestimmte Zeit ausfallen zu lassen. Da das philosophische Hauptseminar der Behandlung der in der Vorlesung thematisierten Fragen gelten sollte, ist durch die Störaktionen auch die Abhaltung des Seminars problematisch geworden, und das Seminar kann ebenfalls bis auf weiteres nicht stattfinden. – Mit vorzüglicher Hochachtung Theodor W. Adorno.“
Bericht Adornos vom 24. April 1969 an Hessischen Kultusminister über Abbruch der Vorlesung und des Hauptseminars
Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Rauter, bestätigt den Abbruch der Vorlesung
Der Dekan der Philosophischen Fakultät gibt dieses Schreiben mit dem Kommentar weiter, die Notwendigkeit, diese Veranstaltung abzusagen, scheine ihm gegeben; Zeugenaussagen bestätigten, daß es sich hier um die schwersten und widerlichsten Störungen gehandelt habe. (Schreiben des Dekans Philosophischen Fakultät an den Hessischen Kultusminister vom 24. April 1969).
Der Abbruch der Vorlesungen und des Hauptseminars wird öffentlich bekanntgegeben
Die Presse und Informationsstelle der Universität veröffentlicht die Absage Adornos noch am selben Tag in einer Presseerklärung.
Adorno: Die Radikalen sind Neurotiker
Hiernach ist Adorno der Überzeugung, dass eine kleine Radikale Minderheit sich in einer kollektiven Neurose befinde:
Das Spiegelinterview mit Adorno
Zwei Wochen nach dem “Busenattentat” am 5. Mai 1969, äußert sich Adorno in einem Gespräch, das er mit dem SPIEGEL führt zu diesem Ereignis. Auf die Frage, ob man Gewalt gegen ihn angewandt habe, antwortet er:
“Nicht physische Gewalt, aber es wurde ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant.“
Anschließend betont Adorno:
“Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Solidarität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert.“
Als der SPIEGEL ihn daran erinnert, er habe einmal gesagt, die Kritische Theorie solle ‘den Stein aufheben unter dem das Unwesen brütet‘; also sei es doch nicht unverständlich, wenn nun die Studenten mit diesem Stein werfen, reagiert er kategorisch und überdeutlich:
“Unverständlich ist es sicher nicht. Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso überzeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte in Frankreich gezeigt.“
Abschließend äußert Adorno sich direkt zu den Ereignissen in seiner Vorlesung:
“Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert.”
SPIEGELGESPRÄCH MIT ADORNO VOM 5. MAI 1969
Tonbandaufnahmen der abgebrochenen Vorlesung fehlen
In ihrer kommentierten Übersicht der Lehrveranstaltungen vom Juli 2015 Theodor W. Adornos bedauern Nico Boka und Dirk Braunstein, dass zum Ablauf dieser Lehrveranstaltung keine Tonbandaufzeichnungen vorhanden sind und stellen folgendes fest (Anmerkung 136):
„Von Adornos letzter Vorlesung »Einleitung in dialektisches Denken« aus dem Sommersemester 1969 finden sich weder Tonbandaufnahmen noch Mitschriften. Überliefert sind allein Adornos Stichworte von drei Vorlesungsstunden (Adorno 2000b). Die Vorlesung wurde mehrfach durch Studenten gestört und musste schließlich abgesagt werden. Auch die Durchführung des philosophischen Hauptseminars (137) war zeitweilig nicht möglich. In einem Brief an den Hessischen Kultusminister vom 24. April 1969 schreibt Adorno: »[D]a eine meiner Vorlesungen unter den widerwärtigsten Umständen gesprengt worden ist und die Abhaltung einer zweiten dadurch unmöglich gemacht, daß die aktionistischen Studenten in meinem Hörsaal und für die gleiche Zeit wie meine Vorlesung eine Plenarsitzung anberaumt haben, sehe ich mich nach Rücksprache mit dem Herrn Prorektor zu meinem größten Bedauern gezwungen, die Vorlesung auf unbestimmte Zeit ausfallen zu lassen. Da das philosophische Hauptseminar der Behandlung der in der Vorlesung thematischen Fragen gelten sollte, ist durch die Störaktionen auch die Abhaltung des Seminars problematisch geworden, und das Seminar kann ebenfalls bis auf weiteres nicht stattfinden.« (Adorno 2000a: 101) Weiter berichtet Adorno am 13. Juni dem Dekan der Philosophischen Fakultät: »[O]rdnungsgemäß mache ich Ihnen davon Mitteilung, daß gestern wieder meine Vorlesung gesprengt worden ist. […] Für nächsten Donnerstag hat man gleichzeitig mit meiner Vorlesung eine sogenannte Vollversammlung der Philosophen im Hörsaal VI anberaumt, offensichtlich um meine Vorlesung, die im Hörsaal V stattfinden soll, zu sabotieren. Ich werde daraufhin am Dienstag, dem 24. Juni, nochmals einen Versuch zu lesen machen, sollte dieser auch scheitern, so müßte ich zu meinem großen Bedauern meine Vorlesung für den Rest des Semesters absagen. Betonen dagegen möchte ich, daß mein sehr stark besuchtes philosophisches Hauptseminar ohne jede Störung in durchaus sachlicher und fruchtbarer Weise verlaufen ist und daß ich zunächst keinen Anlaß sehe, dies Seminar abzusagen. Mein soziologisches Hauptseminar, das sich in Arbeitsgruppen aufgegliedert hat, läuft ohnehin weiter, wenn auch bei der letzten Plenarsitzung unter erheblichen Schwierigkeiten.« (Ebd.: 108 f.) Die Störaktionen einiger Studenten kulminierten schließlich in physischer Gewalt. So berichtet Adorno in einer Aktennotiz vom 17. Juli 1969 von den Versuchen, die Vordiplom-Klausuren in dem Lehrfach Soziologie am 14. Juli zu verhindern: »Mehrere unserer Assistentinnen und Assistenten wurden mit ätzenden Flüssigkeiten bespritzt […]. Professor Rauter und ich stellten uns in den Eingang des Hörsaals, um das Eindringen der Störer zu verhindern. Ein junger Mann, mir weder dem Namen nach noch auch physiognomisch bekannt (ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt Student ist, schwerlich dürfte es ein Soziologiestudent sein), suchte mich wegzudrängen. Ich fragte ihn, ob das physische Gewalt sei, er antwortete ausdrücklich ›Ja‹ und versetzte mir einen Stoß, der immerhin kräftig genug war, um mich zum Taumeln zu bringen. Die Störergruppe konnte dadurch an mir vorbei in den Hörsaal. In diesen war ich selbst gestoßen worden, verließ ihn aber sogleich. Fast im selben Augenblick muß Tränengas, entweder schon vorher im Hörsaal vorbereitet oder von der Störergruppe geworfen, wirksam geworden sein; jedenfalls verspürte ich, der sich gerade in ärztlicher Behandlung wegen einer Bindehautentzündung befindet, sehr heftige Schmerzen in den Augen.« (Ebd.: 113 f.) Bleibt nachzutragen, dass Adorno, nachdem zunächst für das Schreiben der Klausuren Sorge getragen werden konnte, »nach der Aktion noch mit den Studenten, und zwar sowohl mit Schreibwilligen wie mit Störern, über eine beträchtliche Zeit die Diskussion fortsetzte.« (Ebd.: 114).“
Adorno, das Busenattentat und künsliche Intiligenz
Gibt man unter ChatGPT die Suchworte „adorno busenattentat“ ein, reagiert das System wie folgt (Stand: 6. Juni 2024):
„Theodor W. Adorno, a prominent German philosopher, sociologist, and musicologist, is closely associated with the University of Frankfurt. He was a leading member of the Frankfurt School, a group of scholars known for developing critical theory and their contributions to philosophy, sociology, psychology, and cultural studies.
Key Points about Adorno and the University of Frankfurt:
- Frankfurt School:
- The Frankfurt School, formally known as the Institute for Social Research (Institut für Sozialforschung), was established at the University of Frankfurt in 1923. Adorno became associated with the Institute in the late 1920s and was a central figure in its development.
- The School is known for its critical approach to societal issues, blending Marxist theory with other sociological and philosophical frameworks.
- Adorno’s Academic Career:
- Adorno completed his habilitation (a qualification for professorship) at the University of Frankfurt with a thesis on Kierkegaard in 1931.
- After the rise of the Nazi regime, Adorno, like many other members of the Frankfurt School, went into exile, spending significant time in the United States.
- He returned to Frankfurt in 1949 and resumed his work at the Institute for Social Research, becoming a professor of philosophy and sociology.
- Key Contributions:
- Adorno’s work spans a wide range of subjects including philosophy, sociology, psychology, musicology, and literary theory.
- His notable works include „Dialectic of Enlightenment“ (co-authored with Max Horkheimer), „Minima Moralia,“ „Negative Dialectics,“ and „The Authoritarian Personality.“
- Influence and Legacy:
- Adorno’s theories on culture, particularly his critiques of the culture industry, have had a profound influence on contemporary cultural studies and critical theory.
- His work on aesthetics and music, including analyses of classical and modern music, has been influential in musicology.
The University of Frankfurt remains an important center for critical theory and social research, continuing the legacy of Adorno and his colleagues.
Theodor W. Adorno’s relationship with the student movement (Studentenbewegung) of the 1960s, particularly in Germany, was complex and often contentious. Here are key points that outline this relationship:
Adorno and the Student Movement
- Critical Theory and Influence:
- Adorno and the Frankfurt School’s critical theory provided intellectual groundwork that influenced the student movements in the 1960s. The students were inspired by the critiques of capitalism, authority, and culture found in works by Adorno, Herbert Marcuse, and others.
- 1960s Radicalism:
- The student movement, particularly in West Germany, sought radical social change and was heavily involved in protests against the Vietnam War, nuclear armament, and perceived authoritarianism within universities and society at large.
- Conflicting Views:
- While the students saw themselves as applying critical theory to ignite social change, Adorno had reservations about their methods and the direction of their activism. He feared that their revolutionary fervor might lead to authoritarianism, echoing his broader concerns about the potential for new forms of domination.
- Notable Incidents:
- One of the most significant confrontations occurred in 1969 at the University of Frankfurt. During a lecture, students occupied the lecture hall and disrupted Adorno’s class. This led to a famous incident where female students attempted to humiliate Adorno by baring their breasts, an event that deeply upset him.
- Adorno called the police to clear the students from the lecture hall, an action that further alienated him from the student radicals.
- Adorno’s Perspective:
- Adorno critiqued the student movement’s tactics as overly simplistic and potentially counterproductive. He argued for more reflective and theoretical approaches to societal change rather than immediate and direct action.
- His work continued to emphasize the importance of critical thought and theoretical rigor, cautioning against what he saw as the dangers of activism detached from critical self-reflection.
- Impact and Legacy:
- The strained relationship with the student movement highlighted the generational and ideological divides within the left during this period. While Adorno’s ideas influenced the movement, the practical application of those ideas in activism led to significant tensions.
- Despite the conflicts, the student movement and its interactions with figures like Adorno played a crucial role in the broader socio-political changes of the 1960s and 70s.
Conclusion
Adorno’s involvement with the student movement illustrates the complexities of applying critical theory to real-world activism. His cautious approach to social change, emphasizing critical self-awareness and theoretical depth, often clashed with the more immediate and action-oriented strategies of the student activists. This dynamic remains a significant chapter in the history of post-war German intellectual and political life.
The „Busenattentat“ (breast attack) is a notable incident involving Theodor W. Adorno and student protesters that occurred on April 22, 1969, at the University of Frankfurt. This event is often cited to illustrate the contentious relationship between Adorno and the student movement of the 1960s.
The Incident
- Context:
- The late 1960s were a time of significant student activism and radicalism, particularly in Germany. Students were inspired by the Frankfurt School’s critical theory but increasingly frustrated with the slow pace of change and what they perceived as the complacency of older intellectuals.
- Adorno, as a prominent member of the Frankfurt School, found himself in a difficult position. While his theoretical work influenced the student activists, he was critical of their methods and skeptical of their understanding of his ideas.
- The Disruption:
- On April 22, 1969, during one of Adorno’s lectures at the University of Frankfurt, a group of radical students, including three female students, interrupted the session. They approached Adorno, and one of them reportedly wrote „free sexuality“ on the blackboard.
- In a dramatic and provocative gesture, the women bared their breasts, an action meant to challenge Adorno and symbolize a break from traditional academic decorum. This was seen as an attempt to embody the radical freedom and anti-authoritarian spirit they advocated.
- Adorno’s Reaction:
- Adorno was visibly distressed by the incident. He saw it as an affront not just to him personally but to the principles of reasoned discourse and critical thinking that he valued.
- He chose to call the police to remove the protesters, a decision that alienated him further from the student activists and led to criticism from some quarters for what was perceived as a betrayal of the radical cause.
Significance and Legacy
- Symbolic Clash:
- The Busenattentat has become emblematic of the generational and ideological clash between the established intellectuals of the Frankfurt School and the new wave of student radicals. It highlighted the gap between critical theory as an academic pursuit and the lived experiences and demands of the younger generation.
- This incident is often discussed in the context of the limitations and challenges of translating theoretical critique into practical activism.
- Adorno’s Views on Activism:
- Adorno remained critical of what he saw as the oversimplified and sometimes destructive tactics of the student movement. He emphasized the need for deep, reflective critique rather than direct, and often disruptive, action.
- His cautious stance on activism stemmed from a fear that revolutionary fervor could lead to new forms of authoritarianism, a concern rooted in his experiences during the rise of Nazism.
- Historical Context:
- The incident occurred against the backdrop of broader social and political upheaval in the 1960s, including the protests against the Vietnam War, civil rights movements, and various forms of anti-establishment sentiment worldwide.
- It serves as a reminder of the tensions that can arise when academic theories of social change confront the demands and tactics of real-world activism.
The Busenattentat is a vivid example of the complexities involved in the relationship between intellectual critique and political action, and it continues to be a point of discussion in studies of Adorno and the Frankfurt School.“
Das Busenattentat in den Medien und der Literatur
- Anne Lemhöfer: Hörsaal VI – Busenattentat im Raum für Ideen. In: Frankfurter Rundschau. 30. April 2008, abgerufen am 24. August 2019.
- Ulrich Greiner: Schamverlust – Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, Reinbek 2014, ISBN 978-3-498-02524-3, Kap II Schamverlust, 1. Das Busenattentat 1969 – Die Schamvernichtungskampagne der Achtungsechziger – Rückblick auf die alte Moral (Online in der Google-Buchsuche [abgerufen am 31. August 2019]).
- Heide Oestreich: Das „Busenattentat“ auf Adorno: Sechs Brüste für Teddy. In: Deutschlandfunk Kultur. 31. Juli 2019, abgerufen am 31. August 2019.
- Gerd Koenen: Der transzendental Obdachlose – Hans-Jürgen Krahl. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. Band 2, Nr. 3, 2008, ISSN 1863-8937, S. 19, doi:10.17104/1863-8937-2008-3-5 (z-i-g.de [PDF]).
- Ulrich Greiner: Und, passt die Hose? Wie sich die alte Schamkultur zu einer neuen Peinlichkeitskultur fortentwickelt hat. In: Die Zeit. Nr. 11/2014, 6. März 2014, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 31. August 2018]).
- Rudolf Walther: Die Rhetorik des Verdachts. In: TAZ. 6. August 2019, abgerufen am 31. August 2019.
- Tanja Stelzer: Die Zumutung des Fleisches. In: Der Tagesspiegel. 7. Dezember 2003, archiviert vom Original.
- Sascha Zoske: Busen-Angriff auf Adorno: Blankes Entsetzen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 21. April 2019, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 24. August 2019]).
- Benjamin Korn: Mein 68. Über die Studentenrevolte kursieren viele Mythen – darunter einige bewusst missgünstige. In das Leben unseres Autors Benjamin Korn schlug sie ein wie ein Blitz. Er erinnert sich an Frankfurt, Adorno und das legendäre »Busenattentat«. Ein Gastbeitrag von Benjamin Korn. In: Die Zeit. 9. Mai 2018, ISSN 0044-2070, S. 52 ([1]).
- ↑ Wolfgang Kraushaar: Herzinfarkt des Philosophen: Streit um „Busenattentat“ auf Theodor W. Adorno. 14. August 2009 (welt.de [abgerufen am 24. August 2019]).